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Berufsgenossenschaften

Wann ist ein Unfall ein Unfall?

Treten die Berufsgenossenschaften bei ihren Leistungen auf die Bremse? Eine streitbare Anwältin berichtet von ihren Erfahrungen. Und gibt Tipps, wie Mitarbeiter zu ihrem Recht kommen.

Berufsgenossenschaften (BG) gelten als Haftpflichtversicherung für Arbeitgeber: Bei Arbeitsunfällen übernehmen sie alle Kosten, von der Behandlung über die Reha bis zur Verletztenrente. Davon sollen die Mitarbeiter profitieren – dank Pflichtmitgliedschaft der Arbeitgeber. Und auch jeder Unternehmer kann sich selbst freiwillig bei der BG versichern.

Theoretisch klingt das Konzept nicht schlecht. Doch wie sieht die Praxis aus? Das haben wir Beatrix Hüller, Fachanwältin für Versicherungsrecht, gefragt.

Frau Hüller, können sich Arbeitnehmer auf die Absicherung durch die BG verlassen?
Beatrix Hüller: Nach meiner Erfahrung sind die Berufsgenossenschaften bei der Anerkennung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten restriktiver geworden. Wenn die BG einen Antrag auch nach einem Widerspruchsverfahren nicht anerkennt, bleibt nur der Klageweg. Früher konnte man in solchen Fällen noch mit guten Argumenten überzeugen, dass es sich wirklich um einen Unfall handelt. Das geht heute gar nicht mehr.

Warum sollte eine BG einen Arbeitsunfall nicht anerkennen?
Hüller: Damit die Berufsgenossenschaft einen Arbeitsunfall anerkennt, müssen zwei Kriterien erfüllt sein. Es muss sich um einen Unfall im rechtlichen Sinne handeln und es muss ein Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit bestehen. Beides prüft die BG sehr genau. Oft geht es in Streitfällen schon um die Frage, ob es sich überhaupt um einen Unfall handelt.

Nächste Seite: Sie denken vielleicht, es war ein Unfall – doch was sagt die Rechtssprechung dazu?

Wie kann man sich darüber streiten, ob ein Unfall ein Unfall ist?

Hüller: Nehmen wir zum Beispiel eine Situation, in der beim Entladen eines Lasters ein schwerer Gegenstand langsam ins Rutschen gerät und ein Mitarbeiter nachfasst, um diesen Gegenstand abzufangen. Verletzt sich der Mitarbeiter dabei, dann handelt es sich nicht mehr um einen Unfall. Ein Unfall im rechtlichen Sinne liegt nur dann vor, wenn es sich um ein plötzliches und ungewolltes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis handelt. In unserem Beispiel hat der Mitarbeiter nachgefasst, um das Material abzufangen, also war das eine gewollte Bewegung.

Das würde aber voraussetzen, dass der Mitarbeiter bewusst zugegriffen hat. In der Praxis dürfte es sich doch eher um einen spontanen Reflex handeln.
Hüller: Es kommt auf die Plötzlichkeit an. Aber wenn das Material wie in unserem Beispiel langsam ins Rutschen gerät, dann wird es schwer, mit einem spontanen Reflex zu argumentieren.

Nehmen wir an, der Mitarbeiter im Beispiel hat spontan reagiert, also ungeplant. Dann wäre es ein Unfall und es bestünde nachweislich ein Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit. Also müsste die BG leisten?
Hüller: Falls es sich um einen Unfall handelt, würde die Berufsgenossenschaft überprüfen, ob die Verletzung alleine auf diesen Unfall zurückzuführen ist. Gab es schon Vorerkrankungen des betroffenen Körperteils, dann wird sie die Übernahme der Behandlung ablehnen.

Wenn ich durch einen Arbeitsunfall einen Bänderriss erleide, dann ist der Zusammenhang doch eindeutig. Wie kann man den wegdiskutieren?
Hüller: Die Berufsgenossenschaften argumentieren regelmäßig mit degenerativen Vorerkrankungen. Ein Klassiker ist die Rotatorenmanschettenruptur in der Schulter. Die Rotatorenmanschette besteht aus Muskeln und Sehnen, wird bei jedem Menschen ständig stark beansprucht und fasert irgendwann aus. Passieren muss deswegen nichts, viele Menschen leben damit, ohne etwas zu merken. Aber eine Rotatorenmanschette kann bei starker Beanspruchung reißen, zum Beispiel bei einem Arbeitsunfall. Und dann argumentiert die BG: Das war vorgeschädigt und ist nicht alleine durch den Unfall verursacht.

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Und wer zahlt dann die Behandlung und die Reha?

Hüller: Dann müssten bei gesetzlich Versicherten die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung die Kosten übernehmen. Die Leistungen der Berufsgenossenschaften sind jedoch deutlich besser. Die Patienten werden fast wie Privatversicherte behandelt: Man bekommt gute Ärzte, schnelle Termine und leichter Verschreibungen. Die BGen haben einen großzügigeren Leistungskatalog und erstatten viel häufiger die Kosten, als die gesetzlichen Krankenkassen. Außerdem geht es bei der BG nicht nur um Behandlung und Reha, sondern auch um die Verletztenrente. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 Prozent wird eine lebenslange Verletztenrente gezahlt. Selbst dann, wenn man danach irgendwann wieder voll arbeiten kann. Bei 20 Prozent ist man relativ schnell, aber ohne Anerkennung der BG gibt es nichts.

Also wäre es sinnvoll, um die Anerkennung zu kämpfen. Wie sind die Erfolgsaussichten vor Gericht?
Hüller: Die Erfolgsquote in der ersten Instanz liegt bei rund 6 Prozent, in der zweiten Instanz kann man in knapp 20 Prozent durch eine Einigung noch das Ruder herumreißen. Aber einen echten Entscheid zugunsten eines Versicherten, den bekommt man fast nie, das kann man vergessen.

Spricht das nicht dafür, dass die Berufsgenossenschaften in der Regel im Recht sind?
Hüller: Vor den Sozialgerichten läuft das immer nach Schema F ab. Die machen sich nicht viel Arbeit, geben die Fälle in die Begutachtung und beauftragen damit in der Regel Vertragsärzte und -kliniken der Berufsgenossenschaften. Also fallen die Gutachten fast immer im Sinne der BG aus. Dann kann der Kläger noch einen Gegengutachter beauftragen, den er selbst bezahlen muss. Aber die Gerichte entscheiden meistens dennoch zugunsten der BG, weil der vom Gericht beauftragte Gutachter als vertrauenswürdiger gilt. Vor den Landessozialgerichten ist die Bearbeitung viel sorgfältiger.

Nächste Seite: Tipps, wie Sie die Chancen bei der BG verbessern!

Was raten Sie Ihren Mandanten, wenn sie sich mit der BG streiten?

Hüller: Ich prüfe die Unfall- und Arztberichte sehr genau – oft zusammen mit einem Arzt, bevor ich einen Rat gebe. Einem großen Teil muss ich schon sagen, dass eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hat.

Wieso ist die Erfolgsquote so niedrig, wenn Sie den hoffnungslosen Fällen abraten?
Hüller: Es gibt eben auch unbelehrbare Mandanten, die unbedingt vor Gericht wollen. Außerdem sind die Sozialgerichte gerichtskostenfrei.

Wenn die Aussichten vor Gericht so schlecht stehen: Was kann ich tun, um schon vorher meine Chancen bei der BG zu verbessern?
Hüller: Man sollte nach einem Unfall direkt zum Durchgangsarzt gehen und nicht erst drei Tage warten, nur weil es nicht so stark schmerzt und Wochenende ist. Sonst argumentiert die BG später damit, dass in dieser Zeit wer weiß was passiert sein könnte. Bei einem Unfall sind Zeugen wichtig, da braucht man Telefonnummern, Adressen und möglichst Augenzeugenprotokolle. Hilfreich sind auch Fotos vom Unfallort. Außerdem würde ich alle Arztberichte aufheben und möglichst meine Patientenakten kopieren, den Operationsbericht und den histologischen Bericht. Da muss man aber hartnäckig sein, solche Unterlagen geben die Ärzte nur ungern heraus. Auch wenn die BG erst einmal ablehnt, würde ich alle Belege sammeln, zum Beispiel für Fahrten zu Ärzten und Physiotherapeuten. Da kommt einiges an Kosten zusammen, die man rückwirkend gelten machen kann, falls die BG den Unfall später doch noch anerkennt.



(jw)

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