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Foto: handwerk.com

Da staunt der Fachmann

Bürg, Baby, Bürg

Haben Sie jemals einen Leiharbeiter beschäftigt? Dann dürfte Sie interessieren, was ein Kölner Kollege derzeit erlebt.

Post von der Krankenkasse: Das ist die Sorte Briefe, die ein Handwerksunternehmer routiniert überfliegt und – wenn’s gut läuft – an sein Büro weiterreicht. Doch als Richard Schildgen jetzt ein Schreiben mit der Betreffzeile Gesamtsozialversicherungsbeiträge gemäß Paragraf 28 querliest, springen ihm diverse Begriffe entgegen, die er nicht erwartet hat. Er sei ein „selbstschuldnerischer Bürge“. Und er solle „haften“. Wie bitte? Haften? Bürge?

Der Elektrotechnikmeister rückt sich die Brille zurecht und sieht noch einmal genau hin. Aber was er da sieht, wird auch auf den zweiten Blick nicht besser: "Das kann doch nicht sein. Ich muss tatsächlich dafür geradestehen, dass eine Krankenkasse nicht in der Lage ist, ihre Außenstände einzutreiben."

Kurzer Zeitsprung: Im Spätsommer 2012 will Schildgen eine Auftragsspitze abfedern, allerdings sind weit und breit keine Fachkräfte zu finden. Zeitgleich flattert ihm ein Angebot der "Intertime GmbH" auf den Schreibtisch. Die Verleihfirma aus Ahaus und der Handwerksmeister aus Köln werden sich schnell einig, Intertime schickt Schildgen einen deutschen Monteur.

Da ist leider eine Sache, die Intertime nicht schickt – lesen Sie Seite 2.

Die Bürgenfalle schnappt zu

Schildgen hatte für den Mann einen Stundensatz inklusive aller Lohnnebenkosten ausgehandelt – und vollständig bezahlt. Nur: Laut Handelsregister wurde für die Intertime GmbH im September 2013 das Insolvenzverfahren eröffnet, und die Sozialversicherungsbeiträge für Schildgens Monteur sind von Intertime nie überwiesen worden.

Was in so einem Fall passiert – oder besser: Was Schildgen derzeit passiert – regelt das Sozialgesetzbuch IV. In Paragraf 28e Absatz 2 steht: „Für die Erfüllung der Zahlungspflicht des Arbeitgebers haftet [...] der Entleiher wie ein selbstschuldnerischer Bürge.“ Und später: „Hinsichtlich der Zahlungspflicht […] gilt der Verleiher neben dem Entleiher als Arbeitgeber; beide haften insoweit als Gesamtschuldner. "

Schildgen dürfte nicht der einzige Handwerksunternehmer sein, der in die Bürgenfalle tappt, denn das Geschäft mit schnell verfügbaren Arbeitern und Fachkräften ist umkämpft, zahlreiche Anbieter beackern den Markt. In den zurückliegenden Jahren haben uns handwerk.com-Leser immer wieder auf Verleiher hingewiesen, die die Betriebe mit unglaublich günstigen Angeboten zupflastern. Was wurde aus den Anbietern? Wie groß ist ihre Insolvenzanfälligkeit? Das haben wir für 4 der Unternehmen nachrecherchiert – mit einem heftigen Ergebnis.
  
Das ist übel: 4 Anbieter, 3 Nieten – lesen Sie die nächste Seite.

Von Amts wegen gelöscht

Beispiel 1: Die LIB Bau Gmbh aus Osnabrück hatte im Mai 2013 Arbeiter für einen Stundensatz von 26 Euro brutto angeboten. Laut Handelsregister wurde das Unternehmen im August 2013 "von Amts wegen gelöscht".

Beispiel 2: Ein Duisburger Verleiher hatte seit dem Sommer 2013 Werbefaxe verschickt, noch im Oktober 2014 hat uns ein genervter Betriebsinhaber darüber informiert. Unter der Internet-Domain der Verleihfirma ist keine Website platziert, die Büronummer ist auch nach mehrfachen Anrufversuchen an verschiedenen Tagen "vorübergehend nicht erreichbar". Nur das Faxgerät versieht noch seinen Dienst.

Beispiel 3: Stuckateure, Maler, Trockenbauer, Fliesenleger: Ein Verleiher aus der Nähe von Erfurt wirbt mit dem bemerkenswerten Satz: „Wir haben uns darauf spezialisiert, Firmen im gesamten Bundesgebiet mit unserer Kompetenz zu unterstützen.“ Endlich ein Treffer: Das Handelsregister führt das Unternehmen mit der extremen Spezialisierung nach wie vor, auch das Bürotelefon ist aktiv.

Beispiel 4: Ein Anbieter aus Polen hatte im April 2013 via E-Mail mit "optimierten und transparenten Personalkosten" geworben: "Sie zahlen immer nur den im Vorfeld vereinbarten Preis." Allerdings darf man diese Aussage infrage stellen, die Homepage der Verleihfirma ist nicht mehr aktiv, unter der Telefonnummer ist zu hören: "Kein Anschluss unter dieser Nummer."

Kleiner Vorschlag für den Ansagetext: "Keine Sozialversicherungsbeiträge unter dieser Nummer."

Nächste Seite: Unbedenklichkeitsbescheinigung hin oder her – Bedenken sind angebracht!

Verleiher pleite? Pech gehabt!

Der §28 im Sozialgesetzbuch IV soll Arbeitnehmer schützen. Und das aus gutem Grund: In der Vergangenheit haben vor allem Generalunternehmer viel Geld verdient, indem sie einerseits mit Dumpinglöhnen kalkulierten, aber nie zur Kasse gezogen werden konnten, wenn die Subunternehmer und Verleiher ihre Leute schwarz oder gar nicht bezahlt haben.

Die Platzhirsche der Zeitarbeitsbranche werben sogar mit den Sozialgesetzbuch-Regeln. Randstad weist auf der Unternehmenshomepage darauf hin, dass „die Ansprüche der Sozialversicherungsträger auf Beiträge erst vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres verjähren, in dem sie entstanden sind“. Zudem könne die so genannte „Subsidiärhaftung“ auch nicht vertraglich ausgeschlossen werden.

Wie aber können sich Betriebe schützen? Wie können Handwerksunternehmer, die auf Zeitarbeiter angewiesen sind, das Risiko minimieren, das mit der Insolvenz einer Verleihfirma verbunden ist? Eine Möglichkeit: Unbedenklichkeitsbescheinigungen.

Die Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Finanzämter können den Zeitarbeitsfirmen allerdings nur bestätigen, dass die Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnsteuer in der Vergangenheit ordnungsgemäß entrichtet wurden – das Insolvenzrisiko bleibt.

Nächste Seite: „Kleine Betriebe zahlen für die Gier der Generalunternehmer.“

Das Risiko besteht – immer

Für den Verleiher eines Monteurs, den Richard Schildgen derzeit beschäftigt, hat er Unbedenklichkeitsbescheinigungen angefordert. Eine Krankenkasse bestätigt unter „Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs", dass „zurzeit“ keine Beitragsrückstände bestehen. Auch das Finanzamt hebt den Daumen: „Keine fälligen Steuerrückstände.“ Und was noch wichtiger ist: Der Verleiher ist kein Frischling, sondern seit 1992 aktiv, was für eine gewisse Seriösität spricht.

Aus Sicht des Kölner Elektromeisters schützen das Sozialgesetzbuch und die Entleiherhaftung alle Beteiligten – nur nicht die kleinen Betriebe. Im aktuellen Fall muss er nur wenige hundert Euro nachzahlen, weil ein Verleiher pleite ist. Aber es bleibt ein mieses Gefühl: „Kleine Betriebe blechen, weil es in der Baubranche Windeier gibt, die das System ausnutzen? Das ist nicht meine Angelegenheit, ich zahle ja pünktlich alle Sozialabgaben.“

Und dennoch, die Krankenkassen mögen sich den Schwarzen Peter nicht von Schildgen zuschieben lassen. Die "Entleiherhaftung" sei eine gesetztliche Regelung, an "die sich die Kassen halten müssen", sagt die Pressereferentin des Spitzenverbandes der Kranken- und Pflegekassen, Claudia Widmaier. Doch inwieweit haben die Krankenkassen die Betriebe auf ihr Dasein als Zwangsbürgen hingewiesen? Widmaier: "Wir haben unsere Mitgliedskassen über diese Regelung bereits vor zwei Jahren informiert und gehen davon aus, dass die Kassen die Arbeitgeber mit geeigneten Mitteln ebenfalls informieren."

Der AOK-Bundesverband verweist auf Nachfrage darauf, dass "keine aktive Informationspflicht" seitens der Krankenkassen bestehe. Zuletzt habe der Bundesverband Anfang 2013 in seinem Arbeitgeber-Newsletter "praxis aktuell" über die Änderungen in der Gerneralunternehmerhaftung berichtet. Eine Sprecherin der IKK classic bestätigt, dass sich die Betriebe nicht gegen die Entleiherhaftung absichern können. Die Innungskrankenkasse informiere Betriebe unter anderem in Firmenkundenseminaren über die Entleiherhaftung.

Schildgen ist sich sicher, dass er nicht der einzige Kollege ist, der ahnungslos in die Bürgenfalle tappen könnte: „Jeder Betrieb, der in den vergangenen 4 Jahren mit einer Leiharbeitsfirma zusammengearbeitet hat, muss davon ausgehen, dass so etwas passieren kann.“

Können Sie Schildgens Ärger verstehen? Oder hätte er vorsichtiger sein müssen? Hätte er von der "Entleiherhaftung" wissen müssen? Schreiben Sie uns!

(sfk)

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