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Foto: handwerk.com

Flüchtlinge im Handwerk

Flucht nach vorn

Runter vom Abstellgleis, rein in die Gesellschaft. Das Handwerk will mehr Chancen für Flüchtlinge. Niedersachsen hat einen Weg gefunden, wie das funktionieren kann.

Neues Leben als Kfz-Mechaniker
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Beim Honda-Autohaus Pagel steht Zukunftssicherung fest im Programm. 51 Mitarbeiter zählt der Betrieb mit seinen zwei Standorten in und um Hannover. Jeder Dritte von ihnen ist in der Ausbildung.

Der neueste Zugang hat im August die Lehre zum Kfz-Mechaniker begonnen. Ein aufgeweckter Typ mit einem offenen Wesen und einem guten Händchen für Autos: Ahmad Hakimi ist 21 Jahre, spricht bemerkenswert gut Deutsch und kommt aus Afghanistan. Er ist Flüchtling.

In Zeiten des Fachkräftemangels steckt in Menschen wie Hakimi großes wirtschaftliches Potenzial. Ein Potenzial, das kaum genutzt wird. Das soll sich nach dem Willen der Wirtschaft ändern. Auch das Handwerk hat sein Interesse an den Flüchtlingen entdeckt. Doch die Hürden sind zahlreich: Bürokratie, politische Rahmenbedingungen und – noch schlechter – es gibt kaum Strukturen, um geeignete Flüchtlinge gezielt zu suchen und für einen Job zu qualifizieren.

Doch es gibt einige Leuchtturmprojekte. Eines davon trägt den Namen „Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge", kurz AZF. Es entstand 2008 aus einer Kooperation zwischen dem Flüchtlingsrat Niedersachsen, der Handwerkskammer Hannover und weiteren Partnern. Sabine Meyer leitet das Projekt für die Handwerkskammer im Fortbildungszentrum (FBZ) Garbsen. Sie hat auch Ahmad Hakimi betreut und an das Autohaus vermittelt.

Über 2.000 Flüchtlinge betreut das AZF-Netzwerk aktuell. Die meisten absolvieren gerade Sprachkurse, die Grundlage für weitere Bildungsmaßnahmen. „Wir versuchen, alle in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, sagt Meyer. „Meistens in eine Ausbildung.“

Seite 2: Reichlich Praxis, doch ohne Perspektive in der Heimat? Was die Flüchtlinge zu uns bringt.

Der klassische Flüchtling kommt aus der Mittelschicht

160 Flüchtlinge hat Sabine Meyer schon an Handwerksbetriebe vermittelt. Sie arbeiten als Auszubildende, Gesellen, Meister. Sie haben meist den gleichen Weg genommen: Kann ein Flüchtling ausreichend gute Deutschkenntnisse vorweisen, kommt er zum Fortbildungszentrum Garbsen. Dort kann er ein bis zwei Wochen wohnen. In dieser Zeit ermitteln die Mitarbeiter, welche Interessen und handwerklichen Stärken der Flüchtling hat. „Dabei gibt es keinen Welpenschutz. Die Flüchtlinge werden sprichwörtlich ins kalte Wasser geworfen – und viele schneiden extrem positiv ab“, sagt Meyer.

Denn ihre praktischen Fähigkeiten haben sie häufig über Jahre erworben. „Meist kommen die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder Teilen Afrikas. Dort ist es üblich, schon als Kind viel im Familienbetrieb zu arbeiten“, erläutert Meyer und räumt gleich noch mit einem Vorurteil auf: „Diese Menschen zählten in ihren Ländern nicht zu den Armen. Sie kommen aus der Mittelschicht. Viele haben Privatschulen besucht, weil die staatlichen Schulsysteme längst zusammengebrochen sind.“ Für die kostspielige Flucht der Jüngsten geben ihre Familien oft ihr gesamtes Vermögen her.

Ähnlich war es bei Ahmad Hakimi. Sein Vater war bereits Kfz-Mechanikermeister in Afghanistan. „Meistens haben wir amerikanische Autos repariert“, sagt Hakimi. Eine Schule konnte er im krisengebeutelten Land nicht besuchen, es gab keine. Im benachbarten Iran sah das anders aus. „Aber dort dürfen keine Ausländer unterrichtet werden“, sagt Hakimi. Also zahlte sein Vater Schmiergeld, um Hakimi doch eine Schulbildung im Iran zu ermöglichen. Regelmäßig pendelte er zwischen den Ländern. Manchmal blieb er länger im Iran, immer wenn die Taliban drohten, seinen Wohnort einzunehmen.

Seite 3: Hakimis Flucht nach Vorn - aus dem Frachtcontainer in die Ausbildung.

"Durchweg gute Erfahrungen."

Schließlich floh die Familie ganz. Mehrere Monate dauerte die Reise von Afghanistan bis nach Deutschland. Vom Iran aus ging es weiter in die Türkei, nach Griechenland, über Italien, Frankreich, die Schweiz. Das letzte Stück legte Ahmad Hakimi allein mit seinem Bruder und anderen Flüchtlingen in einem Frachtcontainer auf einem Zug zurück. Darin harrten sie fünf Tage aus. In Deutschland angekommen, konnten sie kaum mehr laufen: „Die ersten zwei Wochen haben wir im Krankenhaus verbracht“, erinnert sich Hakimi.

In Hildesheim lernte er Deutsch und machte den Hauptschulabschluss. Schließlich organisierte das FBZ für ihn ein Praktikum im Autohaus Pagel. Nun wird er dort als Lehrling ausgebildet. „Eigentlich verlangen wir einen Realschulabschluss, aber Ahmad hat sich so gut in das Team eingefügt, dass wir ein Auge zugedrückt haben“, sagt Kfz-Meister Ralf Barbara, bei Pagel zuständig für die Ausbildung.

Barbara kam einst selbst über das FBZ zum Kfz-Handwerk. Immer wieder hat er seitdem Lehrlinge über das Bildungszentrum gewonnen, deutsche Staatsbürger und reguläre Einwanderer. „Wir haben mit allen Leuten, die uns das FBZ vermittelt hat, durchweg gute Erfahrungen gemacht“, sagt der Ausbilder.

Gern genommen. Darum kann das Bildungszentrum noch mehr Flüchtlinge gebrauchen: Letzte Seite.

"Jetzt sprechen die Betriebe uns an."

Die Flüchtlinge machen da keine Ausnahme. „Wenn die erst ein Praktikum im Betrieb gemacht haben, heißt es meistens ‚Der ist super, den nehmen wir!‘“, erklärt Sabine Meyer. Das hat sich rumgesprochen. Vorbei sind die Zeiten in denen das FBZ förmlich darum betteln musste, dass ein Flüchtling einen Praktikumsplatz bekommt. „Jetzt sprechen die Betriebe uns gezielt an“, so Meyer.

Dennoch: Das AZF-Netzwerk kann nur einen geringen Anteil an Flüchtlingen in Lohn und Brot bringen. „Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich zwei neue Mitarbeiter einstellen, die in den Gemeinschaftsunterkünften gezielt über die Möglichkeiten und Hilfe aus dem Handwerk informieren“, erzählt Meyer.

Wirtschaft und Gesellschaft würde von dieser Art Flüchtlingshilfe profitieren. So wie Ahmad Hakimi ein Gewinn für seinen neuen Arbeitgeber ist. Das nächste große Ziel des Afghanen ist die Gesellenprüfung. „Und vielleicht irgendwann der Meister.“

(Denny Gille)

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