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Alltag Ausbeutung 3
Leserstimmen: "Die Nutznießer sehen intensiv weg"
Ist das überhaupt ein Thema? Haben sich Handwerksunternehmer mit der Normalität der Ausbeutung abgefunden? Was die Kollegen darauf antworten, ist unheimlich interessant.
Die Meinung einer Dachdeckermeisterin
Bernhardt Screen

Melanie Bernhardt, Dachdeckermeisterin
Bei Großbauten ist Lohndumping leider schon die Regel. Nur eines von vielen Beispielen aus dem Rhein-Main Gebiet: Beim Bau des neuen Europaviertels an der Frankfurter Messe wurden etliche Kolonnen aus Rumänien angekarrt, um "exklusive und hochwertige" Wohnungen zu bauen. Geld gab's fast nie. Hier der Bericht der Frankfurter Neue Presse.
Für mich als Handwerksmeisterin ein Unding. Die großen Baugesellschaften bauen mit unqualifizierten und teilweise schwarz beschäftigten Arbeitern ganze Wohnblocks. Der ehrliche Bauunternehmer kommt nie an diese Aufträge, weil die Preise einfach unterirdisch sind. Das Resultat sind natürlich minderwertige und mangelbehaftete Gebäude.
Ich war in solchen Neubauten im Europaviertel – eine Katastrophe, was da für viel Geld verkauft wird. Hier geht es nur ums Geld, nicht um Nachhaltigkeit. Ein Teufelskreis: Vielen mittelständischen Betrieben fehlen die Aufträge und die anderen nutzen Gesetzeslücken, um sich die Taschen voll zu machen. Alles natürlich unter dem Deckmäntelchen der Legalität. Hier ist dringend Abhilfe seitens der Politik zu schaffen. Die Subunternehmerkette gehört sowieso schon lange abgeschafft.
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Anonymer Kollege
Bilderrahmen Fragezeichen

Ein handwerk.com-Leser und Unternehmer aus Brandenburg möchte mit dieser Geschichte lieber anonym bleiben:
Wir haben bei einer Heizungsinstallation gemeinsam mit tschechischen Trockenbau-Errichtern auf einer Baustelle gearbeitet. Es gab seitens der deutschen Firma, die die Tschechen beschäftigte, für den Trockenbau im nach oben offenen Obergeschoss (über 5 m Höhe) nicht einmal Gerüste. Die Tschechen mussten sich mit Leitern behelfen.
Der Architekt und der Bauherr können unmöglich die hohe Unfallgefahr übersehen haben. Der Auftraggeber ist in gehobener Stellung im öffentlichen Dienst beschäftigt und wäre nicht auf Lohndumping angewiesen.
Hier sind wir ins Grübeln gekommen: Wie sollte man sich verhalten? Die Loyalität gegenüber Auftraggeber und vermittelndem Architekt wahren? Wir haben den Mund gehalten und den Tschechen unser Gerüst geborgt ... ändern tut das an der Situation nichts.
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Die Meinung eines Bauunternehmers
Klaus Engelking

Klaus Engelking, Bauunternehmer in Vlotho
In der VOB ist beschrieben, dass nur Angebote berücksichtigt werden dürfen, die „wirtschaftlich auskömmlich“ sind. Auftraggeber können sich nicht einfach darauf berufen, den billigsten Anbieter zu nehmen. Gerade der Generalunternehmer hätte als „Fachmann“ feststellen müssen und können, dass eine Wohnung in der beschriebenen Weise niemals für 645 Euro saniert werden kann. Selbst unter Einhaltung der untersten Lohngrenze (Mindestlohn) und aller gesetzlichen Abgaben müsste das ein Vielfaches kosten.
Jeder, der ein Gewerbe anmeldet, sollte mit Unterschrift verpflichtet werden, dass er den tariflichen, sozialrechtlichen und steuerrechtlichen Verpflichtungen (auch für künftige Subunternehmer) nachkommt. Im Falle rechtswidriger Handlungen sollten Gewerbescheine sofort wieder eingezogen werden.
Aus meiner Sicht können sich die Unternehmen nicht ständig darauf berufen, von ihren Auftraggebern immer mehr „gedrückt“ zu werden. Wenn alle Unternehmen sich an alle Verpflichtungen halten, kann der Auftraggeber drücken so viel er will, es kann dann kein Dumping geben. Aber Teile des Baugewerbes haben „mafiöse“ Strukturen angenommen, die dem des Drogen- und Rotlicht-Milieus in nichts nachstehen.
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Die Meinung einer Buchautorin
Carol Höhnisch Buch

Carol Höhnisch, Unternehmerfrau und Buchautorin ("Die Handwerkerverschwörung")
Das ist absolut brisant. Ich gehe davon aus, dass alle beteiligten Nutznießer intensiv weggucken. Ihr stoßt da in ein richtiges Wespennest, interessant und gut erzählt. Leider ist es finanziell viel zu lukrativ, billige Altenpfleger, Putzfrauen, Bauarbeiter, Erntehelfer zu nutzen. Die Motivation, diesen Missstand abzustellen, dürfte gering sein. Die Nutznießer sitzen ja auch in verantwortlichen Positionen, Feilschen ist schon lange zum Sport geworden. Und wer sich nicht so verhält, lernt ja in den Medien, dass er nicht clever genug ist. Das System bringt dann eben entsprechende Auswüchse hervor. Billig. Billiger. Am billigsten.
Diese Praxis ist ja nicht nur moralisch verwerflich und verdient öffentliche Ächtung und Bestrafung, sondern führt auch immer wieder zu Dumping in den Berufen, deren Preisgefüge damit unterwandert wird. Solange eine Bekämpfung nicht behördenseits gewollt ist, lässt sich dieses Profitstreben nicht mit moralischen Appellen beseitigen. Wir begegnen der Dumpingstrategie der Kunden mit der Angststrategie – bei Heizungen gibt es zum Glück ausreichend Fehlermöglichkeiten und Beratungsdefizite, eine fachlich kompetente Firma ist nicht einfach austauschbar.
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