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Debatte

"Mindestlohn entzerrt Wettbewerb"

Er führt zu mehr illegaler Beschäftigung, warnen Ökonomen. Jochen Empen sagt: Der Mindestlohn ist gut für die Wirtschaft.

Zuwanderer sind in Deutschland willkommene Arbeitskräfte. Doch viele von ihnen werden ausbeutet. Nicht zuletzt die Bauwirtschaft ist dafür berüchtigt  – obwohl oder weil Mindestlöhne gelten. Jochen Empen arbeitet in Hamburg für das Projekt "Faire Mobilität" des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Er unterstützt Zuwanderer, die in der Billiglohn-Falle gelandet sind.

Herr Empen, wie viele der osteuropäischen Arbeiter, die Ihre Hilfe suchen, haben einen Arbeitsvertrag mit der Baufirma, für die sie tätig sind?
Empen: Ich kann mich nicht an einen Fall erinnern, wo jemand zu uns kam, der am Bau war und einen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte. Wir haben den Eindruck, dass es fast nur mit Gewerbeschein läuft. Oder schwarz.

Und wie viele dieser Gewerbetreibenden sind tatsächlich selbstständig?
Empen: Ich will nicht ausschließen, dass es Fälle gibt, in denen osteuropäische Arbeiter von Baustelle zu Baustelle ziehen und selbstständig sind. Bei fast allen, die wir kennen, ist es aber so, dass sie für einen einzigen Auftraggeber – ich nenne ihn jetzt mal so – gearbeitet haben. Und das, ohne selbst unternehmerische Verantwortung zu tragen, ohne Entscheidungsbefugnis. Von Selbstständigkeit kann nicht die Rede sein.

Was verdienen solche Menschen im Schnitt?
Empen: In der Regel wird mündlich ein Stundenlohn vereinbart. Viele Bauarbeiter erzählen uns, dass ihnen acht bis zehn Euro versprochen worden seien. Bekommen haben sie letzten Endes oft nur die Hälfte, nicht selten nach einer kleinen Anzahlung auch nichts mehr.

Klingt, als hätte man sich die Einführung von Mindestlöhnen sparen können.
Empen: Scheinselbstständigkeit ist ein riesiges Problem. Mit Gewerbeschein und Werkvertrag werden Mindestlöhne häufig Makulatur. Am Bau leider sehr häufig. Viele Bereiche in der Wirtschaft sind von dem Phänomen bis jetzt verschont geblieben. Aber es ist beängstigend, wie es sich ausgebreitet hat. Wer wäre früher auf die Idee gekommen, Regaleinräumer im Supermarkt per Werkvertrag als Selbstständige zu deklarieren? Mit ein bisschen Kreativität geht das. Nur: Das ist kein Argument gegen Mindestlöhne. Man müsste vornherein die Weichen so stellen, dass nicht so viele Arbeitskräfte wie jetzt in die Situation kommen, als Selbstständige für Hungerlöhne zu schuften.

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"Zweistufige Formalitäten"

Wie soll das gelingen?
Empen: Es kommt vor allem auf zwei Behörden an: das Gewerbeamt und das Finanzamt. Die Gewerbeanmeldung ist nur ein Anzeigeverfahren. Erst das Finanzamt prüft hinterher, ob Kriterien für die Selbstständigkeit erfüllt sind. Je nach Region schauen die Finanzbeamten unterschiedlich genau hin. Hier in Hamburg prüfen sie sehr genau. Sie verlangen eine Reihe Nachweise, wer die nicht vorlegt, erhält keine Steuernummer. Und dann war es das mit dem Gewerbe. Allerdings vergeht oft viel Zeit bis zur Entscheidung. Ich frage mich, ob man diese zweistufigen Formalitäten – Gewerbeanmeldung, Prüfung des Finanzamts – nicht zusammenkriegen könnte. Und ich denke, die Gewerbeämter sollten aufmerksamer sein. Jetzt passiert es immer wieder, dass sich Arbeiter monatelang in einer halblegalen Lage befinden. Auftraggeber nutzen das brutal aus.

Müsste man nicht oft sagen: Die Menschen lassen sich ausnutzen?
Empen: Ein Großteil der Osteuropäer, die nach Deutschland kommen, hat keine Ahnung, was hier am Bau abläuft. Dazu kommt Naivität, die Menschen fangen an zu arbeiten und glauben, das klappt schon alles irgendwie. Arbeitsvermittler versprechen ihnen, sich um alles zu kümmern. Nicht wenige stecken mit ausbeuterischen Bauunternehmern unter einer Decke. Wichtig ist, dass die Menschen frühzeitig an Informationen darüber gelangen, was Scheinselbstständigkeit ist. Aber da hakt es. Wir bieten den Gewerbeämtern jetzt Info-Blätter in verschiedenen Sprachen für Existenzgründer an.

Noch mal zum Mindestlohn: Wirtschaftsexperten prophezeien, wenn er branchenübergreifend Wirklichkeit wird, boomt Scheinselbstständigkeit noch mehr.
Empen: Keine Frage, es wird Unternehmer geben, die werden nach Strategien suchen, Mindestlöhne zu umgehen. Und neue Maßnahmen gegen Lohndumping werden wieder zu neuen solcher Strategien führen. Fakt ist jedoch auch: Heute arbeiten Menschen legal zu Dumping-Löhnen. Heute werden Unternehmen, die ihren Leuten faire Löhne bezahlen, von Ausbeutern vom Markt verdrängt. Ich finde, dass ist ein Zustand, mit dem man sich nicht abfinden darf.

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(mfi)

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