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Alltag Ausbeutung 1

Reportage: Der Horror der Normalität

Wohnungsgesellschaften, die knapp kalkulieren, Generalunternehmer, die noch knapper kalkulieren, Subunternehmer, die menschenverachtend kalkulieren: Das letzte Glied in der Auftragskette am Bau sind oft Billiglöhner aus Osteuropa. Warum klappt das – so einfach?

von Manfred Fischer

Salzgitter, Hasenwinkel 11, drittes Obergeschoss. Die Wohnung auf der rechten Seite ist frisch saniert. Für 645 Euro. Laut Rechnung. Für 645 Euro sind die alten Tapeten entfernt, die Wände gespachtelt und gestrichen worden, insgesamt 160 Quadratmeter. Außerdem im Preis inbegriffen: 55 Quadratmeter Laminat verlegen, zwei Fenster lackieren, Kleinarbeiten. Säuberlich dröselt der Subunternehmer den Arbeitsaufwand in seiner Rechnung auf. So wie auch in den anderen Rechnungen. Dutzende Wohnungen hat er in Salzgitter saniert – zu ähnlich kalkulierten Preisen. Sein Auftraggeber spricht von marktüblichen Preisen.

"Wohnungsgesellschaften zahlen nicht viel Geld – alle, durch die Bank", sagt Sven Warner. "Da bleibt auch für uns nicht viel übrig." Warner ist Inhaber einer Baufirma in Herne, spezialisiert auf Wohnraumsanierung und Gebäudemanagement. In Salzgitter fungiert er als Generalunternehmer für einen bundesweit tätigen Immobilienkonzern. Die Aufträge dort kalkuliere er anhand einer Festpreisliste, die die Wohnungsgesellschaft des Konzerns vorgebe, sagt er. Warner nagelt seine Subunternehmer auch auf Preise fest. Sie sollen auf der Basis seiner Festpreise ihre "Handwerker ordentlich bezahlen können". Was heißt ordentlich? "Ich sag' mal so: Wer schnell ist, verdient Geld, wer langsam ist, verdient kein Geld", lautet seine Faustformel.

Marktübliche Preise, ordentliche Löhne. Am Bau ist das sehr oft gleichbedeutend mit billig. Und aus billig wird immer wieder brutal billig. Ausbeutung am Ende der Auftragskette ist Normalität in Deutschland. Die Gewerkschaft IG Bau schätzt, dass in der Baubranche 300.000 Menschen – ein Drittel aller Beschäftigten – als Billiglöhner schuften. Vor allem Menschen wie jene, die in den Wohnungen in Salzgitter gearbeitet haben. So genannte Arbeitsmigranten.

Warum funktioniert Ausbeutung in dem Ausmaß? Wo bleibt das Recht? Eine Erklärung erhält man in Köln.

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Das Mantra gegen den Irrglauben

Klaus Salzsieder verdreht die Augen. "Für drei Euro die Stunde zu arbeiten, das ist nicht verboten", sagt er. Dann neigt er sich leicht nach vorne, fixiert sein Gegenüber, lächelt nachsichtig. Salzsieder ist eine barocke Erscheinung, er trägt grauen, gestutzten Vollbart, seine Stimme ist fest. In der Karnevalszeit leitet der Kölner die Festsitzungen eines Mundartvereins. Im Job erzählt er harte Geschichten. Salzsieder ist Sprecher der Bundesfinanzdirektion West. Das ist die Behörde, bei der in Rechtsfragen im Kampf gegen illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit aus ganz Deutschland die Fäden zusammenlaufen.

Seine Antwort kommt prompt, jedes Mal. Wie kann es angehen, dass Dutzende selbstständige Handwerker dieselbe Wohnadresse haben? "Das ist nicht verboten." Wie kann es sein, dass Handwerksunternehmer nicht selber Aufträge akquirieren? Oder wie lässt sich erklären, dass sie kein eigenes Werkzeug haben? "Nicht verboten." Wie geht das, dass jemand mit deutschem Gewerbeschein kein Deutsch versteht, geschweige denn spricht? Und warum sind die Handwerker eines Subunternehmers nicht bei diesem angestellt, sondern ausgeliehen von einem Unternehmer, der sie wiederum von einer Firma in Osteuropa geliehen hat? "Nicht verboten".

Nicht verboten. Das ist Salzsieders Mantra gegen den Irrglauben, legal und illegal seien in der Arbeitswelt der Billiglöhner leicht auseinanderzuhalten. "Es sind zahlreiche Mosaiksteine, die zusammenpassen müssen, um etwa den Tatbestand der Scheinselbstständigkeit nachzuweisen", sagt er. Und die Antwort ist noch etwas. Sie ist auch Ausdruck des politischen Willens. "Wir haben in der Europäischen Union die Dienstleistungsfreiheit. Deutschland, Europa, alle profitieren davon." Auch wenn Salzsieder das so nicht sagen würde, "alle" bedeutet alle: Unternehmer, Kunden – und Billiglöhner.

Nicht immer stimmt das. Der Maurer Piotr Palizynski und seine Kollegen in Salzgitter haben nicht profitiert. Sogar die Faustformel des Generalunternehmers verpuffte in ihrem Fall. Für die Handwerker war eine andere Rechnung aufgemacht worden. Palizynski gehörte zu einer Gruppe von 30 polnischen Arbeitern von Sven Warners Subunternehmer. Viele von ihnen richteten monatelang Wohnungen wie die im Hasenwinkel wieder her. Nachts schliefen sie in den Wohnungen, am Boden oder auf Matratzen, die sie im Sperrmüll gefunden hatten. Tagsüber wiegten sie sich in der Illusion, dass ihre Arbeit gut entlohnt wird. Erst spät merkten sie, wie wenig nach der Kalkulation des Subunternehmers für sie übrig bleiben sollte.

Palizynski legt die Hände auf die Knie, während er erzählt, was sich Ende vergangenen Jahres abgespielt hat. Sein Tonfall ist ruhig. In Pausen, in denen der Dolmetscher übersetzt, lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, als wolle er sagen: So ist das nun mal. Palizynski heißt in Wirklichkeit anders, er will nicht, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. Er muss vorsichtig sein. Er ist Grenzgänger, Wanderarbeiter. Er lebt mit seiner Familie in Posen, den Lebensunterhalt verdient er in Deutschland, Arbeitgeber und Baustellen wechseln schnell. Nach Salzgitter hat Palizynski Arbeit in Hamburg gefunden. In einem VW-Bus auf einem Parkplatz am Stadtrand schildert er, welche Zutrittsbedingungen zur Arbeitswelt für Grenzgänger existieren.

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Der maximale Stundensatz

"Praca w Niemczech" – Arbeiten in Deutschland. Es war eine der typischen Stellenanzeigen im Internet, über die der Maurer nach Salzgitter kam. Auf einem typischen Umweg. Zur Kontaktaufnahme enthielt die Anzeige eine Handynummer. Eine Frauenstimme am Telefon lotste ihn nach Bochum. Die Frau habe sich als Arbeitsvermittlerin und Versicherungsagentin vorgestellt, erinnert er sich. Sie habe 115 Euro Versicherungsgebühr verlangt. Arbeiter, die nicht zahlten, habe sie nach Polen zurückgeschickt, den anderen die Adresse der Baustelle in Salzgitter gegeben. Dort wartete der neue Chef, Wojciech Grzegorz Puchala, Inhaber der Firma P.H.U. Werder LW mit Sitz in Zabki bei Warschau und in Herne. Der Landsmann weckte Vertrauen.

Wie viel Lohn der Chef versprochen hat, will Palizynski noch genau wissen. "Er hat etwas über 2000 Euro im Monat zugesagt." Brutto. "Wir sollten alle Arbeitsverträge bekommen." 2000 Euro, bei diesen Festpreisen?

Verschiedene Fachleute sagen: unmöglich. Der Kölner Malermeister Thorsten Herwig hat einige Rechnungen – keine enthält Materialkosten – von Warners Subunternehmer nachkalkuliert. Im "äußersten, unwahrscheinlichen Fall", wenn er etwa nur von kleinen Spachtelarbeiten ausgeht, kommt er auf einen Brutto-Stundensatz in Höhe von 20 Euro. Andere Handwerksmeister gelangen zu dem gleichen Ergebnis. Herwig selber kalkuliert mit 40 Euro die Stunde, als Schmerzgrenze für Betriebe bezeichnet er 35 Euro. Wolfgang Goldhacker, Chef einer Münchner Hausverwaltung verzieht das Gesicht, als er die Rechnungen Puchalas sieht. "Keiner unserer Handwerker würde zu diesen Preisen auch nur einen Fuß über die Türschwelle setzen."

Puchala, sagen Fachleute, hätte seinen Leuten "maximal acht Euro die Stunde" bezahlen können, vier Euro weniger als der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn für Malergesellen am Bau.

Er habe gar keinen Lohn in Salzgitter bekommen, sagt Palizynski. Keiner seiner Kollegen soll Lohn bekommen haben. Ab und zu habe ihm der Chef 10, 20 Euro für Benzin in die Hand gedrückt, damit er Arbeitsmaterial holen könne, erinnert sich der Maurer. Von ein paar Kollegen wisse er, dass ihnen Puchala kleine Anzahlungen zugesteckt habe. Wohl nur, um sie ruhig zu stellen. "Wenn wir ihn gefragt haben, wann wir endlich unser Geld kriegen, hieß es immer: sobald er das Geld von Warner hat." Palizynski berichtet von Arbeitern, die nach kurzer Zeit die Nase voll hatten. "Als sie merkten, dass es keinen Lohn gibt, haben sie sich auf der Baustelle geschnappt, was ging, und sind verschwunden." Neue Leute seien aus Polen angereist. Die Fluktuation sei hoch gewesen.

Nächste Seite: Abschied von der Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Das ungeschriebene Gesetz

Einen Arbeitsvertrag soll kaum einer gesehen haben. Doch es gab offenbar welche. Zumindest ein polnischer Kollege hatte von dem Subunternehmer ein Papier erhalten, das mit "Arbeitsvertrag" überschrieben ist, allem Anschein nach ein polnischer Entsende-Arbeitsvertrag. Das Arbeitsverhältnis ist darin auf drei Monate befristet. Als Bruttolohn sind umgerechnet rund 800 Euro festgeschrieben – für einen Vollzeitjob als Maler. Auch dieser Billiglöhner soll immer wieder nach seinem Geld gefragt haben.

Die Mehrzahl der Arbeiter muss den Gedanken an einen Vertrag bald verdrängt haben. Zumal: Glaubt man Palizynski, gilt für Grenzgänger, die in Deutschland arbeiten, auf zahlreichen Baustellen ein ungeschriebenes Gesetz. Das lautet: schwarz oder mit Gewerbeschein. Dass volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen herrscht, hat mit seiner Realität wenig zu tun. "Oft läuft es so, dass die Arbeitsvermittler helfen, ein Gewerbe anzumelden und Versicherungen abzuschließen." Dafür verlangten die Vermittler Geld. Der Gewerbeschein ist berüchtigt als Lizenz für Lohndumper. "Die meisten Kollegen, die sich einen Gewerbeschein holen, werden ausgebeutet." Viele arbeiteten daher schwarz. Wie viel verdient ein polnischer Maurer hier im Land, wenn es gut für ihn läuft? "10 bis 11 Euro die Stunde". Und legal? Palizynski zuckt mit den Achseln.

Auf die Bezahlung der Polen in Salzgitter angesprochen, zuckt auch Sven Warner mit den Achseln. "Wenn einer das Geld nicht weitergibt, was soll man da machen." Warner hat einen dicken Aktenordner mit Auftragsbestätigungen und Rechnungen Puchalas. Darin abgeheftet sind auch Zahlungsbelege. "Ich habe alle Rechnungen beglichen", betont der Generalunternehmer. Er habe nicht mitbekommen, ob Puchala den Arbeitern ihren Lohn zahlt oder nicht. Dieser hätte, sagt Warner, durchaus "reguläre Löhne zahlen können".

Und was sagt der Subunternehmer? Was ist mit dem Geld geschehen, das Warner ihm gezahlt hat? Mit welchen Stundenlöhnen rechnete er für seine Arbeiter? Kamen ihm Warners Festpreise fragwürdig vor? Hat er mit ihm wegen der Löhne gesprochen? Eine schriftliche Anfrage von handwerk.com hat der polnische Unternehmer nicht beantwortet.

Die vielleicht wichtigste Frage: Welche Rolle spielt das stärkste Glied in der Auftragskette, die Wohnungsgesellschaft?

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Auftragsvolumen in Millionenhöhe

Salzgitter, Fredenberg. Nur wenige Fußminuten vom Salzgittersee entfernt liegen Wohnhäuser, in denen die Polen gewerkelt haben. Die Häuser gehören der Hamburger TAG Immobilien AG, betreut werden sie von einer Tochtergesellschaft, der Emersion Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH, sie ist in Salzgitter mit dem Namen "meineSZitty" präsent. Die Gegend wirkt beschaulich. Es gibt viel Grün, zwischen Bäumen ducken sich drei- und fünfstöckige Häuser aus den 70er-Jahren. Die Fassaden sind überwiegend beige, ocker gestrichen, manchen sind hellviolette oder orangebraune Muster aufgemalt, andere sind aus Klinker oder Waschbeton. Dahinter vermutet man günstigen Wohnraum. Doch die Wohnungen sind offensichtlich nicht leicht zu vermieten.

Viele stehen leer. In Hausfluren hängen Zettel, auf denen die TAG-Tochter Anwohnern, die Neumieter werben, einen Gutschein für den Einkauf in einem Baumarkt verspricht. Neumietern, liest man, schenkt sie zum Einzug ein Fernsehgerät. "Unser Viertel wird zunehmend zum sozialen Brennpunkt", sagt eine Anwohnerin. Sie lebt mit ihrem Mann schon lange hier. Sie kennt Fredenberg noch aus der Zeit, als es "ein reines Arbeiterviertel" war. "Die Menschen waren bei VW oder der Hütte beschäftigt." Hier wird seit Jahren zu wenig gemacht, sagt die Frau über den Zustand der Häuser.

Außer in Fredenberg verwaltet die TAG-Tochter Miethäuser in den Stadtteilen Lebenstedt und Hallendorf. Sie ist nach eigenen Angaben das größte Wohnungsunternehmen in Salzgitter. Und sie ist ein großer Auftraggeber für Handwerker – Handwerker aus dem Stadtgebiet, wie sie sagt. "Wir arbeiten zurzeit mit 26 ortsansässigen Betrieben", erklärt Firmensprecher Günter Ott. Bisher seien im laufenden Jahr Aufträge im Wert von mehr als 2,8 Millionen Euro an diese Betriebe vergeben worden. Vergangenes Jahr habe das Auftragsvolumen für das Handwerk in Salzgitter 5,2 Millionen Euro betragen.

"Das ist der Horror, das ist unüblich und nicht gewollt". So kommentiert die Wohnungsgesellschaft im Nachhinein die Festpreise, die Sven Warner dem Subunternehmer gezahlt hat. Auch sie hat nachgerechnet. "Einschließlich der Materialkosten liegen unsere Zahlen vier- bis fünfmal höher als die, die Warner Bau angesetzt hat", sagt Ott. Die TAG rechne bei der Vergabe von Aufträgen mit Stundensätzen zwischen "35,70 und 40,63 Euro".

Warner Bau als ortsfremder Betrieb sei nur beauftragt worden, weil es Engpässe gegeben habe. "Ein Auftragnehmer im Stadtgebiet war damals gerade nicht zu finden." Die Baufirma in Herne kenne man von Projekten in Düsseldorf her. Warner arbeite dort mit eigenen Leuten, es habe bisher keine Probleme mit ihm gegeben.

Von Problemen in Fredenberg habe man erfahren, "nachdem sich Mieter beim Hausmeister beschwert haben", sagt Ott. Manche Handwerker sollen abends gelärmt haben. Die Polen seien "ohne unser Wissen und unsere Erlaubnis in den Wohnungen" untergebracht worden. "Wir haben einzelne Monteurswohnungen, wir haben ein eigenes Gebäude mit Wohnungen nur für Monteure. Und wenn dieser Platz nicht reicht, vermitteln wir Zimmer in Pensionen."

In welcher Lage sich die Arbeiter befanden, ist ihr bis zum Schluss verborgen geblieben, sagt die Wohnungsgesellschaft. Bis sie von offizieller Seite informiert worden ist.

Nächste Seite: Viel mehr Betroffene als befürchtet.

Notruf vor Weihnachten

Für Jochen Empen sind solche Fälle Routine. Jeden Tag hat er mit Menschen zu tun, die für Hungerlöhne rackern oder um den Lohn geprellt werden. Er berät sie. Wieder und wieder erlebt er, dass die, die das Sagen bei der Auftragsvergabe haben, nicht mitbekommen, was passiert. Oder so tun, als ob sie keine Ahnung hätten. Oder sagen, was sie tun, sei legal. Empens Schreibtisch steht in einem Haus am Besenbinderhof in Hamburg. Vor dem Eingang wehen die roten Fahnen des Hausherren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat in seinen Räumlichkeiten hier eine Beratungsstelle für mobile Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland eingerichtet. Sie ist Teil der Initiative "Arbeit und Leben" des DGB. Daran angedockt ist das Projekt "Faire Mobilität", für das Empen tätig ist.

Der Notruf aus Salzgitter erreichte die Beratungsstelle kurz vor Weihnachten. Sechs polnische Arbeiter saßen in Fredenberg fest. Sie hofften noch immer, dass der Chef sie bezahlt. Der jedoch war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatten kein Geld, um heimzureisen, wussten nicht mehr weiter, Anwohner versorgten sie mit Lebensmitteln. Die Telefonnummer der Hamburger Beratungsstelle hatten sie vom polnischen Konsulat erfahren.

Als Jochen Empen all das an einem Morgen im Büro erzählt, surrt der Türöffner in immer kürzeren Abständen. Das Stimmengewirr in der DGB-Geschäftstelle wird dichter, Sprachen mischen sich. Polen, Rumänen, Bulgaren, Ungarn, neuerdings auch Menschen aus Afrika, die das Schicksal in Spanien oder Italien an Land gespült hat, kommen hierher, sagt Empen. Sie suchen Rat in arbeitsrechtlichen Fragen. Häufig ist es mit Rat allein nicht getan.

Empen ist nach dem Anruf zusammen mit Kollegen von "Arbeit und Leben" und der IG Bau zur Baustelle gefahren. Die Gewerkschafter setzten alle Hebel in Bewegung. Sie schalteten den Zoll ein. Sie vermittelten den Arbeitern einen Rechtsbeistand und Geld aus einem Notfonds für die Rückreise. Und sie konfrontierten die TAG, Warner und Puchala mit den Aussagen der Arbeiter. Die Zahl der Betroffenen erwies sich als "größer als befürchtet". "Nach und nach haben sich weitere polnischen Arbeiter bei uns gemeldet", sagt Empen. 30 Namen zählt er auf seiner Liste, und er hält es für wahrscheinlich, dass noch "deutlich mehr" für den Subunternehmer tätig waren.

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"Lieber das als gar nichts"

Schwer nachvollziehbar ist für Empen, dass weder Warner Bau noch die Wohnungsgesellschaft die Situation der Polen gekannt haben wollen. Drei Angaben nähren seine Zweifel: Die fertig renovierten Wohnungen seien nach Aussagen von Arbeitern einmal in der Woche von Vertretern der TAG und Warner Bau abgenommen worden – im Beisein der Polen. Jene Mieterin, die sich an Fredenberg noch als reines Arbeiterviertel erinnert, sagt, ihr Mann habe "meineSZitty" angerufen und auf die Notlage polnischer Handwerker hingewiesen. Palizynski berichtet, er und ein paar Kollegen seien zu einer Polizeistation in Salzgitter gegangen und hätten dort erzählt, dass sie für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten. Passiert sei daraufhin nichts, sagt er.

Unklar ist auch, wo das Geld geblieben ist, das entlang der Auftragskette zu den Arbeitern gelangen sollte. Die Rechtsanwältin Victoria Müller, die mit der DGB-Beratungsstelle zusammenarbeitet, klagte für 25 Polen vor dem Arbeitsgericht in Braunschweig. Ihr Vorwurf: Lohnbetrug in Höhe von 85.000 Euro brutto. Ihre Klage richtete sich gegen Warner, Puchala und einen Helfer Puchalas, der sich auf der Baustelle gebenüber den Polen auch als Chef ausgegeben haben soll. Puchala habe "durch seinen Anwalt sagen lassen, dass er nicht das Geld habe, um die Forderung begleichen zu können", erklärt Müller. Der Anwalt Warners habe das Gleiche mitgeteilt.

"Die Chance, dass wir solche Prozesse gewinnen, ist sehr hoch", sagt Müller. Nicht hoch dagegen sei die Chance, dass Arbeiter danach ihr Geld erhalten. Denn, nicht selten gäben die Unternehmer eine eidesstattliche Erklärung ab, dass sie nicht zahlen können. Oder sie meldeten Insolvenz an. Müller versucht deshalb in der Regel, einen Vergleich zu erreichen. Mit Warner und Puchala hat sie sich schließlich vor Gericht geeinigt. "Puchala bezahlt 10.000 Euro, Warner 15.000 Euro." Für die Arbeiter bedeute das, je nachdem, wie lange einer in Salzgitter beschäftigt war, zwischen "100 und maximal 3000 Euro", erklärt die Anwältin. Was sagen die Arbeiter dazu? "Die akzeptieren das, nach dem Motto: Lieber das als gar nichts."

500.000 Arbeitsmigranten zieht es Jahr für Jahr nach Deutschland. Diese Zahl nennt der Europäische Verein für Wanderarbeiter. Viele von ihnen verheddern sich in Strukturen, die der Verein als "mafiös" bezeichnet. Die Methoden der Ausbeuter sind kein Geheimnis. Organisierte Scheinselbstständigkeit, Arbeitnehmerentsendung über Briefkastenfirmen und Schwarzarbeit sind am Bau, in der Fleischindustrie und in anderen Branchen gang und gäbe. Bei der deutschen "Task-Force" zur Bekämpfung des Missbrauchs der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit ist von einer zunehmenden Professionalisierung des Milieus die Rede.

Warnt denn niemand die Menschen in ihren Heimatländern? Victoria Müller hält kurz den Atem an. Die Antwort flüstert sie beinahe. "Bulgaren kommen immer wieder, selbst wenn sie hier schon einmal ausgebeutet worden sind." Müller kennt diese Menschen, sie stammt selbst aus dem Land. Die meisten ihrer Mandanten sind Bulgaren, im Zuge der Prozesse erhält sie Einblick in deren persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse. "Wenn ich sehe, wie viel Geld sie haben, kann ich verstehen, warum sie lieber in Deutschland für 500 Euro arbeiten, als zu Hause zu bleiben." 500 Euro entsprechen ungefähr 1000 Lewa. "Das sind in Bulgarien vier Monatsgehälter." Und dann sagt Müller noch einen Satz, der dem Wort Billiglöhner einen neuen Klang gibt. "Jeder Euro bedeutet für die Menschen viel." Für einen Moment denkt man an einen anderen Satz zurück, den Satz, den Klaus Salzsieder so oft gesagt hat: "Das ist nicht verboten."

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