Einen solchen Liebesbeweis sieht man selten. Die Schere steht senkrecht und ist weit offen. Um die Enden schlängelt sich ein Maßband. Dazwischen prangen Nadeln, darunter Faden und Bügeleisen. Wenn Sophie Plautz den Kopf nach hinten neigt, erkennt man es sofort – das Zeichen des Schneiderhandwerks. "Ich liebe meinen Job", sagt sie über das Tattoo an ihrer Kehle. Es ist nicht ihr einziges Tattoo. Doch bei keinem anderen erinnert sie sich so an den Schmerz, als die Tätowiermaschine in die Haut stach. "Nacken, Schultern, Rücken durchdrücken und die Luft anhalten, dann hält man es aus."
Ihr Handwerk bedeutet Sophie Plautz sehr viel. Für sich entdeckt hat sie es nach dem Abitur. "Erst da stand für mich fest, dass ich etwas Handwerkliches machen möchte", sagt sie. Zuerst dachte sie noch an eine Tischlerlehre, doch "für den Beruf fehlen mir die Muckis." Dann bewarb sie sich bei Schuhmachern und Schneidern. Und merkte schnell, dass es schwierig wird – wegen ihrer Hochschulreife. "Das kam nicht gut an bei Bewerbungen", betont sie. Von Schneidereien sei ihr auch angekreidet worden, dass sie noch nicht nähen konnte. "Betriebe wollen Lehrlinge, die sie von Anfang an einspannen können."
Um ihre Chancen zu verbessern, jobbte die Rostockerin in einer Theaterschneiderei. Zwei Jahre zog sich die Suche nach einem Ausbildungsplatz hin. Schließlich klappte es bei einem Herrenschneider in Düsseldorf. Nach einem Jahr wechselte sie zu einer Damenschneiderin nach Bremen. In Bremen schloss sie als Kammerbeste ab.
Danach wurde es wieder schwierig. Sie schrieb Bewerbung um Bewerbung. Das einzige Angebot, das sie erhielt, kam von einer Schneiderei, die "Tischdecken und Bettzeug herstellt." Plautz schlug einen anderen Weg ein. Sie suchte die Herausforderung, die extreme Herausforderung.
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Des Zirkus neue Schneiderin
Seit gut einem Jahr reist sie mit dem Zirkus Roncalli durchs Land. Sie ist die einzige Schneiderin, die mit den Artisten tingelt. Sie ist für alle Kostüme und Accessoires zuständig, sie entscheidet, was zu tun ist. "Bei meiner ersten Premiere dachte ich schon, ich schaffe es nicht. Erst kurz vor der Vorstellung war ich mit der Arbeit fertig." Die 25-Jährige erzählt das, während sie den Strumpf eines Clownkostüms flickt.
Zu tun hat sie immer. Roncalli gibt täglich zwei Vorstellungen. Plautz fängt zwei Stunden vorher an. Sie ist dann in ihrem Werkstatt-Wagen, und es dauert nicht lange, bis der Erste hereinschneit, der ihre Hilfe braucht. Requisiteure geben löchrige weiße Handschuhe ab und bekommen Ersatz. Musiker und Artisten holen Kostümteile, die sie ausgebessert oder geändert hat. Vieles ist zur Routine geworden für sie. Auch das Kunststück, mit zwei Händen zu erledigen, wozu normalerweise vier nötig sind:
Applaus. Die Musik wird lauter, schneller. Plautz' Wagen steht hinter der Manege. Sie hört, wann sie dran ist. Noch ein paar Minuten. Dann muss sie Weißclown Gensi ins Pferdekostüm und aufs Holzpferd helfen. Da platzt ein Requisiteur in die Scheiderei, eine Schulterklappe seiner Livree in der Hand. Er hat Schweißperlen auf der Stirn, muss gleich zurück in die Manege. Er schafft es rechtzeitig – mit Klappen auf beiden Schultern. Auch Gensi ist rechtzeitig parat. Der Clown schenkt Plautz ein Lächeln, als er im Sattel sitzt.
"Im Zirkus wird anders ausgebessert als in der klassischen Schneiderei", erklärt die Handwerkerin das kleine Kunststück. Anders, das heißt nicht nur zack, zack. Das heißt vor allem: "Es muss halten." Plautz verwendet dickere Fäden, arbeitet mit doppelten oder dreifachen Einlagen. Flicken unterlegt und kaschiert sie nicht, wie sie es gelernt hat, sie näht sie einfach oben drauf. "Von den Zuschauerplätzen aus erkennt man den Unterschied nicht."
Reparaturen und Änderungen sind die eine Aufgabe der Roncalli-Schneiderin. Die andere: Neuanfertigungen. Sie füllen ein Drittel ihrer Arbeitszeit aus. Am meisten Spaß macht ihr das Sticken. Für Gensi hat sie eine Paillettenweste kreiert. Auch die Damenwesten der Rollschuh-Artisten "Les Pauls" stammen von ihr. Sie strahlt, wenn sie solche Arbeiten Revue passieren lässt.
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Nur eine Branche ist unbeliebter
Wenn man Sophie Plautz so reden hört, stellt sich die Frage, warum es im Handwerk so wenig Auszubildende mit Abitur gibt. Sind Vorurteile der jungen Leute gegenüber dem Handwerk ausschlaggebend? Oder liegt es auch an Vorurteilen von Betrieben? Fakt ist, nur etwa acht Prozent aller Lehrlinge haben die Hochschulreife. Das zeigt die Statistik des Bundesinstituts für Berufsbildung. Was die Zahlen auch zeigen: Das Handwerk ist fast Schlusslicht im Berufe-Ranking. Nur eine Ausbildung in der Hauswirtschaft ist noch unbeliebter (s. Blaumann? Bloß nicht!). Bildungsexperten appellieren seit langem an Handwerksbetriebe, die Ausbildung als Einstieg in eine Karriere darzustellen – vom Gesellen- über den Meisterbrief bis zur Existenzgründung.
Der Schneiderin half die Arbeitsagentur nach der Lehre. Sie vermittelte den Kontakt zum Zirkus Roncalli, der damals gerade in Niedersachsen gastierte. "Ich war nicht die erste Wahl, aber die anderen Bewerber wollten alle nicht mit dem Zirkus reisen", sagt Plautz. Sie fädelte geschickt ein. "Man hat immer so romantische Vorstellungen vom Zirkus. Die habe ich gleich rausgeschmissen, als ich die Zusage erhielt." Drei Tage ist sie von ihrer Vorgängerin eingearbeitet worden, danach kam sie zurecht. Auch an das Leben hat sie sich schnell gewöhnt. "Ich mag die Atmosphäre auf dem Platz", sagt sie. Viel Komfort hat sie nicht. Sie wohnt und schläft in einem kleinen Abteil eines Zirkuswagens. Wenn der Zirkus umzieht und sie zwei, drei Tage frei hat, fährt sie nach Hause nach Bremen, die Wohnung dort hat sie behalten.
Ihr Arbeitsvertrag bei Roncalli läuft ein Jahr. Wie es danach weitergeht, ist offen. "Ich kann mir vorstellen, das hier länger zu machen", sagt sie. Hat sie ihr Chef im Zirkus eigentlich schon mal auf ihre Tattoos angesprochen? Ja, sagt sie und lacht. "Solange ich nicht in der Manege stehe, kann ich hier rumlaufen, wie ich will."