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Verpfuschte Freizügigkeit

Das Fliesenleger-Syndrom

Am Bau schießen Ein-Mann-Gewerbe osteuropäischer Arbeiter nur so aus dem Boden. Daran ändert die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit wenig. Wie realitätsfern die aktuelle Politik ist, zeigt sich am Beispiel der heimlichen Fliesenlegerhauptstadt Deutschlands.

Das Warten ist vorbei. Seit 1. Januar gilt für Rumänen und Bulgaren die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das heißt auch: Kein Zuwanderer aus den beiden EU-Ländern benötigt mehr einen Gewerbeschein, um hier zu arbeiten. Es sei denn, er ist tatsächlich selbstständig. Oder er muss diesen Anschein erwecken, weil sein "Auftraggeber" ihn sonst verhungern lassen würde. Politiker in Berlin knüpfen an die Freizügigkeit hohe Erwartungen. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die Zahl der fragwürdigen Gewerbeanmeldungen am Bau und auch in anderen Branchen abnimmt. Doch was sich im Handwerk wirklich abspielt, übersehen viele.

Besonders deutlich wird die Entwicklung am Beispiel der Fliesenleger. "Das ist das Einfallstor für Scheinselbstständigkeit am Bau", sagt Ilona Klein über dieses Handwerk. Die Expertin des Zentralverbands des Baugewerbes (ZDB) malt das Bild eines durch die Politik verpfuschten Handwerks. Sie erinnert dabei an das Jahr 2004. Es war das Jahr, als die Meisterpflicht gestrichen wurde und neue Ein-Mann-Betriebe einen "gnadenlosen Unterbietungswettlauf" einläuteten. Und das waren nicht nur deutsche Neuunternehmer. 2004 war auch das Jahr der EU-Osterweiterung, Busse mit polnischen Fliesenlegern rollten zu Gewerbeämtern.

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Irrer Zuwachs: 800 Prozent mehr Betriebe

Bundesweit ist die Zahl der Fliesenlegerbetriebe laut ZDB seit 2004 um mehr als 500 Prozent gestiegen, 68.000 Betriebe wurden zuletzt (Dezember 2012) gezählt, darunter 18.500, deren Inhaber aus dem EU-Ausland stammen. Einen Gründerboom extremen Ausmaßes verzeichnet die Landeshauptstadt Niedersachsens. Die Zahl der Betriebe hat hier in den vergangenen zehn Jahren um fast 800 Prozent zugenommen. Sage und schreibe 1460 Fliesenleger sind bei der Handwerkskammer Hannover eintragen.

Zuhauf kommen auch Zuwanderer in die Stadt, die sich mit anderen Gewerken anmelden. Mehr als 40 Prozent der jährlichen Neueinträge in die Handwerksrolle entfallen auf Menschen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten. Zum Vergleich: Der Bundesdurchschnitt liegt bei 27 Prozent.

Geht der Anteil jener Gewerbeanmeldungen, hinter denen sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse verbergen, in den nächsten Jahren zurück? So wie es aussieht, muss sich die Politik etwas Neues einfallen lassen.

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Polen nutzen die neuen Möglichkeiten

Keine Frage, die volle Freizügigkeit bringt viele Menschen in Lohn und Brot. Zum Beispiel Zuwanderer aus Polen. Für sie sind die Beschränkungen im Mai 2011 gefallen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hat sich in der Zeit bis März 2013 die Zahl derer mit sozialversicherungspflichtigen Jobs fast verdoppelt. Insgesamt rund 200.000 Polen hatten zum Stichtag einen solchen Job.

Dazu passt, dass die Betriebsgründungen weniger werden. 2010 meldeten 5100 Polen einen Betrieb – Kleinunternehmen ohne Handelsregistereintrag oder Handwerkerkarte nicht mitgezählt. Zwei Jahre später waren es laut Statistischem Bundesamt noch 3600. Die Zahl der Gründungen von Kleinunternehmen dagegen verharrte auf hohem Niveau. 2010 machten sich 33.000 Polen auf dieser Basis selbstständig, in den beiden Folgejahren gingen 34.000 und 33.000 diesen Schritt. Vieles spricht dafür, dass sich ähnliche Trends bei Rumänen und Bulgaren einstellen.

So positiv manche dieser Zahlen sein mögen, Tatsache ist: Auf Baustellen gelangen zahlreiche ausländische Arbeiter nach wie vor nur auf dem Umweg über das Gewerbeamt. Detaillierte Daten dazu liegen den Ämtern nicht vor. Eine Auswertung des Landesamtes für Statistik in Niedersachsen zeigt, dass die Zahl der Neugründungen im Baugewerbe tendenziell noch oben geht. In der Zeit von Januar bis Oktober 2013 gründeten Ausländer 699 Betriebe (42% aller Neugründungen) in Niedersachsen, 2012 waren es 674 (36%), 2011 gab es 706 (34 %) Neugründungen. Klein- und Nebenerwerbsbetriebe mitgerechnet registrierten die Gewerbeämter 4019 (2011) , 3925 (2012) und 4270 (2013) Gründungen. Von voller Freizügigkeit spüren Zuwanderer am Bau kaum etwas. Das deutet sich auch für andere Gewerke an. Sozialversicherungspflichtige Jobs, auch dafür spricht die Statistik, finden Menschen aus Polen, Tschechien, Slowenien und den anderen Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, ganz überwiegend außerhalb des Handwerks.

Fragt man Unternehmer und andere Experten, warum vermeintliche Ein-Mann-Betriebe am Bau Konjunktur haben, hört man immer wieder ein Wort: billig. Dass es Mindestlöhne gibt, erscheint angesichts dessen, wie leicht sich jedermann in einen Handwerksunternehmer verwandeln kann, geradezu absurd. Ob das Syndrom der Fliesenleger der Politik eine Warnung ist?

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(mfi)

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