Steife Gelenke und Tunnelblick:
Alterungsexperiment1
Eigentlich schleicht sich das Alter ja langsam an, bis man sich irgendwann vor ihm wegduckt oder sich ihm entgegenstemmt. Eine Bürde, die von Jahr zu Jahr schwerer wird. Bei mir kommt das Alter jedoch ganz plötzlich, wie im Zeitraffer. Ich ziehe mir einfach einen Anzug namens „Adit“ über. Er besteht aus zahlreichen Einzelteilen mit Klettverschlüssen, die mich an die Knie-, Hand- und Ellenbogenschützer eines Inline-Skaters denken lassen. Nur dass sie ihre Träger eher zu Fall bringen, als sie vor dem Fall zu schützen.
Wer die Idee für den Anzug hatte und was neu daran ist, erfahren Sie auf Seite 2.
Im Studium kennengelernt
Der Damenmaßschneider David Müller hilft mir beim Anziehen, wir befinden uns in seinem Atelier in Kassel. Den Alterssimulationsanzug „Adit“ hat er gemeinsam mit Elisa Steltner und Nadja Ruby von der Ruby amp; Steltner GmbH entwickelt. Die drei lernten sich beim Produktdesign-Studium an der Kunsthochschule Kassel kennen. David Müller hatte sich nach Schneiderlehre, Fachabitur und Zivildienst dafür entschieden und den Schwerpunkt auf textile Produkte gelegt. Der 30-Jährige hat sein Examen noch vor sich. Parallel zum Studium verdingt er sich als selbstständiger Maßschneider. Zu seinen Spezialitäten gehören Krawatten und Fliegen aus exotischem Fischleder.
"Die anderen Anzüge arbeiten mit Gewichten"
Elisa Steltner und Nadja Ruby machten sich vor zwei Jahren selbstständig. Unter dem Namen „Alte Liebe“ vertreiben sie über das Internet selbstgehäkelte Mützen. Dafür haben sie ein Netzwerk von häkelnden älteren Damen aus Leipzig und Kassel aufgebaut. Die Anfrage einer Firma brachte sie auf die Idee, einen Anzug zu entwickeln, der das Alter fühlbar macht und jüngere Menschen für die damit verbundenen Einschränkungen sensibilisiert. Hygienisch, atmungsaktiv, modular aufgebaut und leicht sollte er sein. „Die anderen Anzüge, die es auf dem Markt gibt, arbeiten mit Gewichten“, sagt Elisa Steltner.
Von der Idee zum Prototypen: Lesen Sie auf Seite 3, wie der Anzug Form annahm und wer an der Entwicklung beteiligt war.
Studien in Altenheimen
Die beiden Frauen holten sich ihren Kommilitonen David Müller, einen Arzt und eine Physiotherapeutin mit ins Team. Dann machten sie sich gemeinsam daran, einen Prototypen zu entwickeln: In Altenheimen studierten sie die Bewegungsabläufe von älteren Menschen, um die Anforderungen an den Anzug zu definieren. David Müller experimentierte mit verschiedenen Materialen und Nähtechniken und schaffte sich eine Polstermaschine an. Nach etwa einem Jahr war die erste Version Ende 2013 fertig, wenige Monate später folgte die zweite, optimierte Fassung. „Adit“ besteht unter anderem aus Industriefilz, nicht brennbarem Fleece, Gurten aus Acetat, die Müller zufolge bis zu 180 Kilogramm Zug aushalten, und zahlreichen Klettverschlüssen.
Blockierte Gelenke
„Der Anzug blockiert die Gelenke in der Beuge durch Edelstahlstäbe so wie sie auch in Korsetts verbaut werden“, erklärt der Maßschneider, während er mir die Einzelteile reicht. Schwer sind die Teile nicht, zusammen wiegen sie etwa fünf Kilogramm. Aber mit jedem, das ich mir anlege, fühle ich mich steifer und unbeweglicher. Zuletzt befestigt Müller die Gurte: zwei am Gesäß und an den Waden – sie zwingen mich in die Knie – und zwei an Schulterpartie und Oberschenkeln – sie verleihen mir die gebeugte Haltung.
Wie der Anzug bei Seminaren zum seniorengerechten Bauen zum Einsatz kommt, erfahren Sie auf Seite 4.
Treppensteigen schwer gemacht:
Alterungsexperiment3
Mühsame Gehversuche
Beim Aufstehen muss ich mich an einer Tischkante festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann darf ich mir noch eine Brille aussuchen, die das Sehen aber nicht verbessert, sondern erschwert. Dabei habe ich die Wahl zwischen grauem Star, Tunnelblick und 20 Prozent Restsehfähigkeit. Ich setze die schwarze Brille für den Tunnelblick auf und versuche, mich in Richtung Ausgangstür zu bewegen.
Handwerkskammer nutzt den Anzug für Seminare
Seit die Ruby amp; Steltner GmbH den Alterssimulationsanzug verkauft und verleiht, haben ihn bereits etliche Menschen ausprobiert. Außerdem hat Elisa Steltner ein Seminarkonzept entwickelt, die Kunden können sie als Dozentin buchen. Die Handwerkskammer Kassel zum Beispiel baut das Alterungsexperiment in ihre Seminare zum Thema barrierefreies Bauen und Renovieren ein. „Es geht darum, Handwerkern ein Gefühl dafür zu vermitteln, für wen sie da eigentlich tätig sind“, sagt Kammermitarbeiterin Barbara Scholz. Sie spricht von einem „Aha-Effekt“, der eintritt, sobald jemand versucht, mit dem Anzug eine Treppe hochzugehen oder eine Jacke an den Garderobenhaken zu hängen.
Lesen Sie auf Seite 5, wie weit die Autorin mit dem Anzug gekommen ist.
Veränderter Blick
Bei mir ist der Aha-Effekt schon längst eingetreten. Da ich nur kleine schlurfende Schritte machen kann, bin ich sehr langsam, die Gelenke fühlen sich steif und unbeweglich an, und durch die Nackenbarriere kann ich nicht geradeaus, sondern nur schräg nach unten blicken. Zwischen meinen Handgelenken und den Filzkappen über meinen Fingerkuppen sind Gummibänder gespannt, so dass es mir schwer fällt, nach der Klinke zu greifen. Ich öffne die Tür, will ins Freie treten und übersehe wegen meines Tunnelblicks die erste Treppenstufe. Zum Glück hält David Müller mich gerade noch fest. Ohne seine Hilfe wäre ich gestürzt.
(afu)
Weitere Informationen: www.discover-adit.com, www.textilmanufaktur-mueller.com
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