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Landpartie mit Brotmobil

Ausflug: Landpartie mit dem Brotmobil

Wenn die Kunden nicht zum Bäcker kommen können, kommt der Brotwagen eben zu ihnen: Mit Tina Urban unterwegs in der Altmark.

08.00 GAGEL. Früh am Morgen ist ein Sturm aufgezogen. Seit zwei Stunden wütet er nun schon über der nördlichen Altmark, rupft an den kahlen Bäumen und treibt graue Wolken vor sich her. Tina Urban ist froh, als sie sich dem Ortseingang von Gagel nähert. Auf freier Strecke hat sie den Lieferwagen nur mit Mühe in der Spur halten können. Bei den ersten Häusern greift sie nach dem Knopf für den Signalton. Hier fange ich immer an, Krach zu machen. Obwohl die meisten Kunden schon von selber kommen. Auf dem Dorfplatz neben der Feldsteinkirche wird sie schon erwartet. Zwei Frauen halten ihre leeren Einkaufsbeutel umklammert, der Wind zerrt an ihren Kopftüchern. Na, das ist ein Sturm der will einen ja umschmeißen, meint die eine, als Tina Urban sie freundlich begrüßt hat. Sie sucht der Kundin sechs Brötchen heraus: Sie wollen doch immer schöne helle, nicht? und erkundigt sich dann: Und wie geht es ihrer Mutter? Die zweite Kundin erzählt, dass heute Nacht der Wind die Ziegel von ihrem Hausdach gefegt hat: Erst voriges Jahr hatten wir neu gedeckt! Sechs Brötchen, ein Roggenbrot, eine Bildzeitung, eine Bild der Frau und eine Streuselschnecke: Der erste Umsatz des Tages.

Seit über vier Jahren fährt Tina Urban nun schon für Bäckermeister Hagemann aus Lückstedt den Verkaufswagen über die Dörfer zwischen Arendsee, Stendal und Elbe. Sie arbeitet auf Provision sechs Tage in der Woche. Es gibt drei verschiedene Routen, die sich alle zwei Tage wiederholen. Der Arbeitstag beginnt morgens um sieben mit dem Beladen des Lieferwagens und endet je nach Tour am späten Nachmittag. Die Route am Montag und Mittwoch führt bis ins niedersächsische Schnackenburg hinauf. Sie ist die längste: 19 Dörfer rund 100 Kilometer in acht Stunden.

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10.30 Neulingen. Bei jedem Halt des Wagens drückt Tina Urban auf den Knopf, sirrend fährt die Klappe nach oben, gibt die Ladentheke frei. Wie oft sie an diesem Tag die Klappe des Wagens betätigen wird, kann sie nicht sagen. In jedem Dorf mindestens drei- oder viermal. In manchen Dörfern hält sie alle paar hundert Meter an. Die alten Leutchen sind doch nicht mehr gut zu Fuß. Warum sollen sie da zu mir laufen, wenn ich auch vor die Tür fahren kann? Doch oft wartet sie vergeblich. Manchmal weiß sie, was ihre Kunden daran hindert, bei ihr einzukaufen: Frau Werner ist bestimmt im Krankenhaus bei ihrem Mann. Er hatte vor zwei Wochen einen Schlaganfall. Trotzdem wartet sie einige Minuten vor der Gartenpforte schließlich könnte ja doch jemand zu Haus sein. Oft hängt sie die Ware dann auch einfach an die Haustürklinke. Ich weiß ja, was die Leute haben wollen: Sie nehmen doch meistens dasselbe. Die Kunden bezahlen dann eben beim nächsten Mal. So viel Vertrauen muss man schon haben. Der Einkaufsbeutel ist das Zeichen: Hängt er leer an der Klinke, weiß ich, die Leute möchten etwas.

Unsere Dörfer hier sind klein, erklärt Hermann-Josef Hagemann, Urbans Arbeitgeber und Landesinnungsmeister der Bäcker in Sachsen-Anhalt. Sie haben zwischen 60 und 300 Einwohner. Die Arbeitslosigkeit in diesem Teil Sachsen-Anhalts liegt bei bis zu 25 Prozent. Die jungen Leute wandern ab. Auf den Dörfern leben fast nur noch alte Menschen. Schon längst hätten die Lebensmittelläden den Verkauf eingestellt. Die älteren Leute sind doch auf uns angewiesen. Hagemann betreibt in den größeren Orten rund um Lückstedt vier Filialen. Den Verkauf auf Wochenmärkten stellte er ein, als Mitte der 90-er Jahre die Konjunktur in Sachsen-Anhalt völlig einbrach und die Kaufkraft mit sich nach unten riss. Damals hat Hagemann für seinen Betrieb zwei Verkaufswagen angeschafft, die Tina Urban und eine Kollegin nun auf verschiedenen Routen über die Dörfer fahren. Das ist die einzige Möglichkeit, die Kunden dort noch zu erreichen.

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12.00 Gollensdorf. Zu 95 Prozent habe ich kein Dorf für mich allein, erzählt Tina Urban. Hier kommen auch noch drei weitere Bäcker her. Trotzdem hält sie hier an und fährt die Klappe hoch. Das ist das Wichtigste dass die Klappe hoch geht. Sonst denken die Leute, ich stehe hier, weil ich Pause mache. Während sie auf Kundschaft wartet, führt sie ihre Verkaufsliste. Ich habe hier im Wagen keine Registrierkasse. Deshalb schreibe ich alles auf, was ich verkaufe. Am Abend übergibt sie die Liste ihrem Chef, der sie in den Computer eintippt. So hat er immer einen Überblick, was wir auf den einzelnen Touren an Ware brauchen. Nach fünf Minuten fährt sie die Klappe wieder herunter. Wir können weiter. Hier kommt keiner mehr.

Mindestens zwei, drei Stammkunden habe sie in jedem Dorf, erklärt sie. Mehr haben die anderen Bäcker auch nicht. Sie freue sich über jeden Kunden, auch wenn er nur ein Brötchen kauft. Natürlich ist die Freude größer, wenn die Leute auch beim Kuchen zulangen. Aber mehr als anbieten kann ich ihn nicht. Es sei nicht ihre Art, den Leuten etwas aufzuschwatzen, auch wenn sie beim Verkauf einen gewissen Ehrgeiz entfache: Wenn ich keinen Umsatz mache, ärgere ich mich schon. Seit 18 Jahren arbeitet Tina Urban bereits im Verkauf. Gelernt hatte sie Schuhfacharbeiterin. Aber bald nach der Lehre wechselte die heute 41-Jährige in die Lebensmittelbranche und verkaufte Fleisch und Wurst im Konsum, bis sie 1997 die Stelle bei Hagemann antrat.

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14.00 Schnackenburg. Donnerstag brauchen sie nicht auf mich zu warten, da bin ich nicht da, verabschiedet sich die alte Dame. Tina Urban weiß schon Bescheid: Jeden ersten Donnerstag im Monat ist doch immer Seniorennachmittag. Dann hat sie mit ihrem Verkauf schlechte Karten im Elbestädtchen: Ihre Stammkunden im ehemaligen deutsch-deutschen Grenzort treffen sich in Gartow oder Kapern, um Rommé zu spielen oder gemeinsam zu basteln. Ist doch nett, dass mir die Kundin Bescheid sagt, meint Urban. Umgekehrt mache sie das auch so: Wenn tatsächlich mal eine Fahrt ausfallen muss, wie vor kurzem, als die Backstube bei Hagemann geschlossen bleiben musste, weil dort neue Fliesen verlegt wurden, sagt sie allen Kunden vorher Bescheid. Sie verlassen sich doch sonst darauf, dass ich komme.

Jeder kleine Ort hatte früher seinen eigene Dorfbäckerei, berichtet Fred Westphal, Geschäftsführer des Bäckerinnungsverbandes Niedersachsen/Bremen. Doch seit den 70-er Jahren hätte sich auch das Bäckerhandwerk in Niedersachsen aus der Fläche zurückgezogen. In der Zeit sei die Zahl der Betrieb um ein Drittel zurückgegangen: von mehr als 4500 Betrieben auf heute rund 1500. In den Dörfern lohnen sich keine Verkaufsstellen mehr. Die Wagen sind eine günstigere Alternative, wenn man die Fläche weiter abdecken will. Rund 600 Wagen seien es, schätzt Westphal, die in Niedersachsen unterwegs sind. In dieser Zahl habe sich in den vergangenen zehn Jahren nicht viel verändert: Das ist hier eigentlich ein kontinuierlicher Absatzweg des Bäckerhandwerks. Wir sind eben ein klassisches Flächenland. Und gerade in den ländlichen Gebieten, wo man erst einmal ein- bis eineinhalb Stunden über Land fahren muss, bis man die nächste Großstadt erreicht, sind die Wagen oft die einzigen Nahversorger.

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16.30 Holtorf. Am Ortsausgang von Schnackenburg biegt Urban in einen Feldweg ein, der am Vordeich der Elbe entlang führt. Schließlich endet die Piste zwischen den Scheunen und dem modernen Wohnhaus eines Bauernhofes. Gudrun Wetzlaff und ihre vierzehnjährige Tochter Anna haben den Brotwagen schon kommen hören. Die Hofbesitzerin schätzt die Bequemlichkeit des Hagemannschen Brotwagen-Services: Die nächste Bäckerei ist zehn Kilometer weit weg. Lieber bezahle sie ein bisschen mehr fürs Brot und bekomme es dafür vor die Tür gefahren den Plausch mit Tina Urban eingeschlossen. Denn ob es um Annas Besuch beim Zahnarzt geht oder um den umstrittenen Schnitt ihrer neuen modischen Jeans: Urban nimmt Anteil am täglichen Allerlei der Wetzlaffs. Schließlich kennt sie die Familie schon seit Jahren: Ich kann mich noch gut an Annas zehnten Geburtstag erinnern. Sie hat damals ein Pferd geschenkt bekommen. Überhaupt erfahre sie eigentlich eine Menge aus dem Leben ihrer Kunden. Und wenn jemand krank ist oder stirbt, geht das richtig ans Gemüt.

Es macht Tina Urban nichts aus, dass sie immer wieder mit den Kunden über das Wetter reden muss. Noch am späten Nachmittag reagiert sie genauso freundlich wie morgens bei der ersten Kundin, wenn sie auf den plötzlich aufgezogenen Sturm angesprochen wird. Freundlichkeit ist, wenn man trotzdem lacht, hat sie von einem früheren Chef gelernt. Privaten Frust kann ich schließlich nicht an den Kunden auslassen.

Das war heute ein ganz guter Tag, stellt sie auf dem Rückweg fest. Ich bin mit dem Umsatz zufrieden. Insgesamt habe sie zwar weniger Brot verkauft als sonst, dafür aber mehr Kuchen: Es hat Rente gegeben. Da kaufen sich die Leute schon mal ein Stück extra.

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Nicht einfach nur Gewinn einfahren

Statistisch gesehen setzt jeder fünfte der etwa 20.000 Bäckerei-Betriebe in Deutschland auf den rollenden Verkauf: Der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks hat rund 4000 so genannte mobile Verkaufsstellen gezählt. Der Erfolg einer Verkaufstour stehe und falle mit dem Engagement des Verkaufspersonals, wissen Branchenkenner: Nicht jeder sei in der Lage, neue Kunden zu gewinnen, bessere Möglichkeiten für die Route zu erkennen oder das Sortiment auf die Kundenwünsche abzustimmen. Doch auch mit höchst engagierten Verkaufskräften am Steuer der Lieferwagen sei es nicht leicht, im mobilen Verkauf Gewinne einzufahren: Das gesamte Know-How des Tourenaufbaus dürfe in seinen Anforderungen nicht unterschätzt werden.

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