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Foto: handwerk.com

Wir packen das

Den Betrieb auf links gedreht

Das verlangt Mut: Ein schwäbischer Kollege hat sich eingestanden, dass er den Überblick als Chef verloren hat. Seine Einsicht ist nachhaltig belohnt worden.

Das Ganze im Blick
Bauer klein

von Heiner Siefken

Gute Sache so ein Vorgespräch. Kurzes Telefonat, das Thema einkreisen, im Kopf entstehen die ersten Szenen für das Video über den Dachdeckermeister Andrej Bauer. Dann der Termin, es ist 7 Uhr, ein nebliger Morgen auf der schwäbischen Alb. Alle Beteiligten sind pünktlich, sogar der Videomensch mit seiner Kamera und dem Drehplan, den Bauer um exakt 7.02 Uhr über den Haufen wirft. „Der Anfang ist mir zu negativ, hier hat sich derart viel verändert, weshalb zeigen wir nicht, wie es jetzt aussieht?“

Nach einem Blick durch die Halle wird deutlich, was Bauer meint. Um ihn herum wuseln motivierte Mitarbeiter, die Leute scherzen miteinander, jeder Handgriff sitzt. Nur: Vor nicht allzu langer Zeit war das noch anders. Völlig anders. Und auch deshalb ist die Kamera hier, die Bilder sollen dokumentieren, dass Betriebsinhaber eingefahrene Strukturen verändern können. Zumindest eine kurze Zeitreise zurück in die schlechte alte Zeit muss Bauer ertragen.

Nächste Seite: Chef gereizt, Abläufe chaotisch – Zeit für die Reißleine.

Reichlich Stunden, keine Wertschöpfung

2012. Die selbe Uhrzeit, die selbe Halle, der selbe Betrieb. 16 Mitarbeiter warten auf Ansagen. Zu dumm, dass der Chef noch überlegen muss, wer mit welchem Auto auf welche Baustelle fährt. Er hat das erste Team zusammengestellt und erklärt, was seine Leute auf einem Neubau im Nachbarort erwartet. Im Hintergrund streiten sich andere Mitarbeiter darüber, wer am Vorabend vergessen hat, den Pritschenwagen abzuladen. Die Hälfte der Mitarbeiter steht mit den Händen in den Taschen herum und hört weg. Eines haben allerdings alle gemeinsam: Sie sind gereizt. An einem guten Tag dauert es anderthalb Stunden bis die Mitarbeiter und die Autos vom Hof sind. Anderthalb Stunden ohne jede Wertschöpfung.

„Ich war ständig überfordert, stand unter Dauerstrom, ich habe das psychisch und körperlich fast nicht geschafft“, erinnert sich Bauer. Unterbewusst sei ihm klar gewesen, dass er die Abläufe in seinem Betrieb verändern muss: „Aber ich konnte meine Ideen nicht alleine umsetzen, ich hatte mir im Laufe der Zeit zu viele Aufgaben aufgehalst.“ Der Schlafmangel gibt ihm den Rest: „Es gab Phasen, in denen nicht mehr als zwei oder drei Stunden Schlaf pro Tag drin waren.“

Bauer ist seit der Jahrtausendwende selbstständig. Ende 2012 wird ihm klar, dass sein Leben als Chef auch sein Leben als Familienvater belastet. Er trifft eine Entscheidung – und greift zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung nimmt Barbara Beyer ab. Sie ist seine ältere Schwester, er vertraut ihr. Und sie hat noch einen weiteren Vorzug, Beyer ist Expertin für Lean Management. Der Auftrag, den Bauer ihr gibt, ist schlicht und gleichzeitig umfassend: „Stell‘ meinen Betrieb auf den Kopf.“

Nächste Seite: Tief hängende Früchte – die Mitarbeiter beißen an.

Das Team kotzt sich aus

Lean Management steht für schlanke Betriebsführung. Oder, um es mit den Worten von Barbara Beyer auszudrücken: „Werte ohne Verschwendung schaffen.“ Ihre wichtigesten Ziele: Was für die Wertschöpfung wirklich notwendig ist, wird optimal aufeinander abgestimmt. Überflüssige Abläufe werden vermieden.  

Wie weit Andrej Bauer davon entfernt ist, wird deutlich, als sie mit ihm gemeinsam alle Probleme auflistet. Weil es schlicht an allen Ecken und Enden gleichzeitig brennt, überlegen die Geschwister, welche Veränderungen den schnellsten Nutzen bringen könnten. Zunächst gehen sie 4 Punkte an, sie greifen nach den „Low hanging Fruits“.

  • Zwei Hallen sind vorhanden, aber es mangelt an Platz
  • Ordnung und Sauberkeit sind Fremdwörter
  • es fehlt am Informationsaustausch mit dem Büro
  • die Arbeitsatmosphäre ist mies

Beyer ist klar, dass sie den vierten Punkt nicht unterschätzen darf. Sie trommelt als ersten Schritt die Mannschaft zusammen, führt Einzelgespräche: „Die Mitarbeiter haben sich ausgekotzt. Das ist die Bedingung dafür, dass die Leute mitziehen.“



Ein Workshop mit allen Beteiligten beginnt mit einer einprägsamen Geste. Andrej Bauer steht auf und wirft eine Handvoll Schrauben auf den Tisch: „Seht mal Jungs, wirklich an jedem Abend, wenn ich mir die Autos ansehe, finde ich fast einen Eimer davon. Ich gebe im Jahr einen fünfstelligen Betrag für Material aus, das wir zum Teil wegschmeißen. Das ist Verschwendung pur.“



Sofort kommen die ersten Verbesserungsvorschläge, es wird deutlich, dass die Mitarbeiter regelrecht heiß darauf sind, Verantwortung zu übernehmen. Einer der Dachdeckergesellen drückt nach dem Workshop noch einmal die Schulbank und lernt kalkulieren. Jeder Schritt hat ein identisches Ziel: den Chef entlasten.



Gute Frage: Was zahlt der Kunde für Chaos? Lesen Sie nächste Seite!

Ein Loch im Brett für 25 Euro

Die Interviewszenen für das handwerk.com-Video über Andrej Bauer entstehen auf einer der aktuellen Baustellen seiner Firma. Wie er auf das Baugerüst steigt, wie er sich mit seinen Leuten auf dem Dach unterhält, wie er Anweisungen gibt, wie er mit anpackt – alles Szenen, die nur einen Schluss zulassen: Eigentlich ist der Dachdeckmeister kein Typ fürs Büro. Draußen fühlt sich der Mann ganz offensichtlich wohler als am Schreibtisch.

Da muss er durch. Chefs von 15 oder mehr Mitarbeitern verbringen zwangsläufig reichlich Zeit im Büro. Immerhin haben ihm die neuen Strukturen im Betrieb Freiräume verschafft, er hat gelernt abzugeben, er delegiert. Und wenn er selbst die Abläufe in seinem Betrieb betrachtet, stellt er sich heute eine entscheidende Frage: Ist der Kunde bereit, dafür zu zahlen, was ihm mein Betrieb bietet?

Barbara Beyer hat ihrem Bruder diesen Ansatz mit einem nachvollziehbaren Beispiel vermittelt: "Ein Kunde will ein Loch in ein Brett gebohrt bekommen. Jetzt gehe ich her, suche erste einmal den Schraubstock, dann den Bohrer, dann die Bohrmaschine. Dann ist der Bohrer kaputt, ich muss ihn auswechseln. Letztendlich bohre ich das Loch und sage dem Kunden, ich habe eine Viertelstunde gebraucht, das kostet Dich 25 Euro."

25 Euro für ein Loch? Das dürfte etwas übertrieben sein, schließlich erledigt ein mittelmäßig begabter Handwerker die Aufgabe in 30 Sekunden. Und genau darum gehe es im Lean Management, verdeutlicht Beyer: Alle Abläufe auf den Kunden ausrichten, sich auf die eigenen Stärken konzentrieren, Verschwendung sichtbar machen.

Nicht ganz unwichtige Frage zum guten Schluss: Was kostet der Spaß?

Mehr eingespart als investiert

Und egal wie groß ein Auftrag ist, das Prinzip sei immer gleich, sagt Beyer: "Ein Kunde will nicht für die Zeit bezahlen, die Du beim Beladen der Fahrzeuge verschwendest. Er will nicht dafür bezahlen, dass Du mit einer schlecht gelaunten Mannschaft auf der Baustelle erscheinst." Wenn der Kunde aber registriere, dass die Abläufe auf der Baustelle ineinandergreifen, dass die Mannschaft Spaß an der Arbeit hat, wird er begeistert sein: "Er wird gerne für die Leistung bezahlen – und Dich vor allem weiterempfehlen."

Knapp 30.000 Euro hat ihn die Neustruktierung gekostet, allerdings hat er nicht nur Barbara Beyer für ihre Arbeit bezahlt, sondern auch die Hallen inklusive der Personalräume modernisiert. Die Kosten einer Neustrukturierung beziffert Beyer für Handwerksbetriebe auf durchschnittlich 10.000 bis 20.000 Euro.

Früher war alles schlechter

In Bauers Fall hat sich die Investition unmittelbar ausgezahlt, allein im ersten Jahr hatte er Einsparungen in Höhe von sagenhaften 46.000 Euro, gleichzeitig ist der Umsatz explodiert, er wird noch mehr als früher empfohlen. Mittlerweile konnte er reinen Gewinn in den Fuhrpark und in neue Maschinen reinvestieren.

Der größte Gewinn ist allerdings, dass Andrej Bauers Spaß am Beruf zurückgekehrt ist. Dass Baugewerke flexiblel reagieren müssen, weil das Wetter mies ist oder die Vorgewerke nicht rechtzeitig fertig werden, sei eine Sache. Und natürlich breche bei solchen Unbillen nach wie vor im Hintergrund Hektik aus, gibt Bauer zu. Trotzdem könne er gelassen reagieren: "Ich habe die Aufgaben und die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt, ich habe die Organisation im Griff. Wir geben dem Kunden Sicherheit – und auch uns selbst. Wir packen das."

(sfk)

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