Foto: ZDH/Schuering

Inhaltsverzeichnis

Wirtschaft

„Das Handwerk ist ein echter Stabilitätsanker“

Wie geht es weiter mit Fachkräfterekrutierung und Integration, der beruflichen Bildung und Internationalisierung? Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer im Interview.

Auf einen Blick:

  • Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer äußert sich zu aktuellen politischen Themen.
  • Statt einer neuen Agenda 2010 bräuchten wir wieder, dass alles, was die Politik ausgibt, erst einmal verdient werden muss. Für soziale Wohltaten sei jetzt nicht die Zeit. Zugleich müsse die Politik Versprechen einhalten, wie die vollständige Abschaffung des Solis.
  • Integration im Handwerk sei der richtige Weg – jetzt bräuchten die Menschen auch eine Bleibeperspektive.
  • Neue Fachkräfte: Der Master Professional sei sinnvoll, um neue Fachkräfte zu gewinnen, zum Beispiel Polen, die vor dem Brexit flüchten.
  • Ausbildung: Wollseifer fordert eine Gleichbehandlung von Azubis und Studenten bei den Versicherungsbeiträgen.
  • Weitere Themen des ZDH-Präsidenten: die Wiedereinführung der Meisterpflicht in möglichst vielen Gewerken, mehr Wertschätzung für das Handwerk, Bürokratieabbau und Entlastung bei Steuern und Abgaben
  • EU: Das Handwerk wolle weder eine europäische Arbeitlosenversicherung noch einen europäischen Mindestlohn.

Der Wirtschaftsmotor scheint ins Stottern zu kommen. Wie sind Ihre Prognosen für das Handwerk?

Hans Peter Wollseifer: Die Konjunktur im Handwerk brummt weiter, wir haben in den meisten Gewerken volle Auftragsbücher bis in den Winter hinein. Allerdings bei handwerklichen Zulieferern für die Industrie und auch im Werkstattgeschäft der Kfz-Handwerke gibt es erste Konjunkturdämpfer als Folge der gesamtwirtschaftlichen Schwächephase. Aber insgesamt ist das Handwerk ein echter Stabilitätsanker der deutschen Wirtschaft. Damit das so bleibt, sollten wir den Blick auf die Binnenkonjunktur halten und stärken.

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Brauchen wir also keine neue Agenda 2010?

Wollseifer: Wir brauchen vor allem wieder ein Bewusstsein dafür, dass alles Geld, was die Politik ausgibt, vorher erst einmal verdient werden muss. Wir können nicht nur auf Sozialleistungen setzen, sondern wir müssen Arbeits- und Aufstiegschancen schaffen, damit Menschen sich ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten können. Die sozialen Wohltaten der letzten beiden Legislaturperioden jedenfalls können wir so nicht weiter verteilen, weil das auf Dauer nicht finanzierbar ist und vor allem zu Lasten der jungen Leute geht. Das ist keine Generationsgerechtigkeit. Wir brauchen eine Politik, die sich der täglichen Probleme der Menschen annimmt, um Politikverdrossenheit einzudämmen. Dazu gehört auch, dass gemachte politische Versprechen auch eingehalten werden – wie etwa das zum Abbau des Soli. Die Entscheidung zum nur teilweisen Abbau des Soli war ein Vertrauensbruch. So etwas untergräbt den Glauben in politische Verlässlichkeit. Darin liegt vermutlich auch begründet, dass Gesellschaften in Europa immer mehr nach rechts rutschen. Das macht mir große Sorgen.

Können wir dem Rechtsruck auch mit mehr Unterstützung bei der Integration entgegenwirken?

Wollseifer: Das Handwerk hat sich hier sehr stark engagiert. Flüchtlinge über Ausbildung und Arbeit zu integrieren ist wichtig und gesellschaftlich geboten. Wenn Flüchtlinge selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können, dann kann man sie nicht als Sozialstaatsprofiteure bezeichnen – damit entzieht man einem der häufigsten Argumente von rechten Populisten den Boden. Und unsere kleinstrukturierten Betriebe können Integration. Jeder zweite geflüchtete Azubi aus einem der acht häufigsten Asylzugangsländer lernt im Handwerk, mehr als in allen anderen Wirtschaftsbereichen. Und wir wollen, dass sie bleiben. Die 3 + 2 Regelung möchten wir im neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz auch umgesetzt wissen. Für junge Leute ist es eine Katastrophe, wenn sie während oder nach der Ausbildung wieder zurück nach Syrien oder Afghanistan müssen. Mein Auszubildender ist zum Christentum konvertiert. Wenn er in den Iran zurück müsste, würde er das vermutlich nicht überleben.

Woher kommen die Fachkräfte?

Mit dem neuen Einwanderungsgesetz können gezielt Fachkräfte aus dem Ausland angeworben werden. Wie wichtig ist da der Bachelor Professional und Master Professional, der als Ergänzung zum Meistertitel ja kontrovers diskutiert wird?

Wollseifer: Damit da gar keine Zweifel aufkommen: Der Meister bleibt selbstverständlich der Meister! Aber die Bezeichnungen „Bachelor professional“ und „Master professional“ sind eine sinnvolle Ergänzung, um die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Ausbildung sichtbar zu machen. Und noch ein Aspekt: Auch das Handwerk wird immer internationaler. Mit diesem Zusatz bei der Berufsbezeichnung wird international verständlicher, auf welch hohem Niveau die deutsche Meisterausbildung liegt. Das ist wichtig, wenn wir etwa Fachkräfte aus Kasachstan oder vom Balkan anwerben wollen, die eine Ausbildung genossen haben. Die müssen wissen, welches Qualifikationsniveau die Stellen haben, auf die sie sich in Deutschland bewerben. Mit dem Meistertitel allein kommen wir da nicht zum Ziel. Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Daher sollten wir offen sein für diese neuen Zusätze, die das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz vorsieht. Geradezu fahrlässig wären allerdings Ergänzungen wie „Junior Professional“ sowie „Senior Professional“, die die Kultusminister der Länder als Vorschlag eingebracht haben. Das käme einer klaren Abwertung der beruflichen Bildung und ihrer Abschlüsse gleich, das lehnen wir strikt ab.

Werden jetzt eigentlich mit dem Blick auf den Brexit polnische Fachkräfte in Großbritannien angeworben?

Wollseifer: Ja durchaus, die Handwerkskammer Köln zum Beispiel macht das. Sie bietet Polen gezielt Arbeitsplätze in Firmen an. Und die sind sehr offen für einen Wechsel nach Deutschland, weil völlig unklar ist, wie es nach einem Brexit weitergeht.

Wie ist der Stand bei der Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung?

Wollseifer: Die Bundesbildungsministerin hat uns Hoffnung gemacht, dass es in dieser Legislaturperiode noch eine Reform des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes geben wird. Ob die Meisterausbildung gleich zu 100 Prozent finanziert wird, ist allerdings offen. Zur Gleichwertigkeit gehört für mich aber auch, dass für Azubis bei der Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung dasselbe wie für Studenten gilt. Studenten sind bis zum 25. Lebensjahr familienkranken- und pflegeversichert. Das muss künftig auch für Azubis gelten. Bei der Unfallversicherung übernehmen die Länder die Finanzierung für Studenten, das müssen sie auch für Azubis übernehmen. Das wäre ein wichtiges „Gleichwertigkeitssignal“. Sowohl Azubis als auch Betriebe, die ausbilden, müssen entlastet werden. Azubis müssen mehr Netto vom Brutto haben. Bei unserem Vorschlag hätten Azubis weniger Abzüge und die Ausbildungsbetriebe weniger Abgaben. Mit der Mindestausbildungsvergütung für Azubis gibt es nur mehr Brutto, entscheidend ist aber das Netto. Denn das ist das, was im Portemonnaie landet.

Die Mindestausbildungsvergütung für Azubis wird aber kommen …

Wollseifer: Ja, das ist so. Aber vom Grundsatz her lehnen wir das ab, weil wir es als ureigenste Aufgabe der Sozialpartner ansehen, die Höhe von Ausbildungsvergütungen festzulegen. Man kann nicht alle Gewerke und Regionen über einen Kamm scheren. In Bayern können Betriebe vielleicht mit einem Satz von über 500 Euro pro Monat im ersten Ausbildungsjahr leben, nicht aber eine Reihe von Betrieben etwa in der Uckermark oder anderen Regionen. Ohnehin ist die Höhe der Vergütung nicht der wesentliche Punkt, um Jugendliche für das Handwerk zu gewinnen. Sonst hätten wir bei den Gerüstbauern, die die höchsten Ausbildungsvergütungen überhaupt zahlen, oder in den Bauberufen keine Engpässe.

Politischer Ausblick: Was wird wichtig (bleiben)?

Sie streben eine Wiederwahl zum ZDH-­Präsidenten im Dezember an: Welche drei zentralen Themen wollen Sie in den Mittelpunkt einer weiteren Legislatur stellen?

Wollseifer: Nun, derzeit gebe ich natürlich alles dafür, bis zum Jahresende die Wiedereinführung der Meisterpflicht in möglichst vielen Gewerken hinzubekommen. Wenn wir das geschafft haben, dann werde ich weiter alles dafür tun, die Wertschätzung des Handwerks noch stärker zu erhöhen. Zweifelsohne haben wir schon viel erreicht, aber das ist mir immer noch nicht genug.

Das nächste Thema: Fast jeder zweite Betrieb im Handwerk sucht Fachkräfte. Dieser Mangel ist eine richtige Wachstumsbremse. Den Wert und die Wertigkeit von beruflich qualifizierten Fachkräften für die Gesamtwirtschaft wieder im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, da müssen Politik und wir noch viel tun. Da muss sich einiges ändern, brauchen wir ein Umdenken. Sonst ist es doch kein Wunder, wenn sich junge Leute nicht für den Berufsweg einer Fachkraft im Handwerk entscheiden.

Und der dritte Schwerpunkt: Wir müssen Betrieben mehr Luft zum Atmen geben, wir brauchen gerade für kleine und mittlere Betriebe spürbare Entlastungen – bei der Bürokratie, bei Sozialabgaben, bei Steuern. Da muss eine Unternehmenssteuerreform kommen. Und ich bleibe bei meiner Forderung nach einer hundertprozentigen Abschaffung des Solis, alles andere halte ich für nicht verfassungsmäßig.

Und welche neuen Impulse wird die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bringen?

Wollseifer: Ich hoffe, dass es nicht zu der von ihr angekündigten europäischen Arbeitslosenversicherung kommt. Die wollen wir nicht. Und wir möchten auch keinen europäischen Mindestlohn. Den sollen die Tarifparteien in den jeweiligen Nationalstaaten klären. Die EU soll sich um die großen Fragen kümmern, z.B. Außengrenzen, Digitalisierung, Energiewirtschaft, Migration. Europa braucht weniger Regelungsaktionismus statt mehr. Die europäische Bürokratie und Gesetzgebung muss endlich auf das notwendige Maß reduziert werden. Wie für alle Politikbereiche, so sollte auch für die neue EU-Kommission und ihre Präsidentin der Grundsatz im Vordergrund stehen: „Mehr Entlastung wagen“, statt neue Belastungen durch neue Vorschriften, Regelungen oder Abgaben zu schaffen. Und was für das Handwerk ein ganz wichtiges Feld ist: Datenökonomie, -sicherheit und -wettbewerb. Es darf keine Datenmonopole bei den Herstellern geben. Daten gehören den Bürgerinnen und Bürgern. Die sollen entscheiden, wer Zugang zu ihren Daten bekommen soll. Die EU muss für einen fairen Datenwettbewerb sorgen, der Handwerksbetriebe nicht außen vor lässt.

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